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Gesellschaft & Politik

Wie verständlich sind die Wahlprogramme für die Bundestagswahl 2021?

Am 26. September entscheiden die Bürger über die neue Zusammensetzung des Parlaments. Ob Menschen mit Einschränkungen über die Ziele der Parteien adäquat informiert werden, analysiert für ROLLINGPLANET Sprachwissenschaftlerin Andrea Halbritter.

Titelseiten der Wahlprogramme von AfD, FDP, SPD, die Linke, Union und den Grünen
(Foto: IWN)

In einer Langzeitstudie der Universität Hohenheim wurden 2019 die Europa-Wahlprogramme aus der Zeit von 1979-2019 auf ihre Verständlichkeit untersucht. Das Ergebnis: Zwischen den deutschen Programmen aus den Jahren 2014 und 2019 gab es kaum Unterschiede.

Langzeitstudie zur Verständlichkeit von Wahlprogrammen

Die formal verständlichsten Wahlprogramme stammten von der CDU, dahinter folgten SPD und DIE LINKE. Am formal unverständlichsten waren die Programme der FDP. Die Verständlichkeit der Wahlprogramme litt vor allem unter Fremd- und Fachwörtern, Nominalstil*, Wortzusammensetzungen, Anglizismen und Denglisch sowie sehr langen, verschachtelten Sätzen.

* Der Nominalstil findet sich hauptsächlich in wissenschaftlichen Texten. Kennzeichen sind viele Hauptwörter und wenige Vollverben. Beispiel: „Bis zum Inkrafttreten des Gesetzes dauerte es“ statt umgangssprachlich „Es dauerte bis das Gesetz in Kraft trat“.

Wie sieht dies 2021 im Hinblick auf Bundestagswahlprogramme aus?

Verständlichkeit der Wahlprogramme für die BTW 2021

CDU/CSU

Das gemeinsame Bundestagswahlprogramm der Union umfasst 140 Seiten. Für Wähler ohne besondere Einschränkungen ist es in weiten Teilen gut verständlich, obwohl es durchaus längere Sätze und Komposita, wie „Sicherheitsarchitektur“, „Menschenrechtsmechanismen“, „Personalstrukturmodell“ und „Technologieführerschaft“, enthält. Einige Fremdwörter dürften nicht allen Wählergruppen bekannt sein, so zum Beispiel „multilateral“ (mehrere Vertragspartner betreffend), „Resilienz“ (psychische Widerstandskraft) und „ballistisch“ (die Flugbahn betreffend). Schwer verständlich sind Passagen mit viel Nominalstil und seltenen Wortzusammensetzungen. Bei ausgewählten Passagen bewegt sich der Fleschgrad des Programms der Union nach Amstad zwischen 22 und 46 (0 steht für einen sehr schweren Text, 100 für einen sehr leicht verständlichen).

Neben diesem Programm besitzt die Union auch eine Audioversion sowie Programme in Fremdsprachen, in deutscher Gebärdensprache und Leichter Sprache. Das Leichte-Sprache-Programm der CDU/CSU hat 42 Seiten und ist sehr übersichtlich gestaltet. Für Menschen mit einer geistigen Behinderung enthält es mit Adverbialsätzen** und Vorgangspassiv*** noch einige schwer verständliche Strukturen, darunter sogar einen verkürzten Bedingungssatz: „Hat die Forschung etwas Neues über Medizin herausgefunden: Dann soll man zum Beispiel auch ganz schnell die Medikamente verbessern.“ (S. 26) Verneinungen können leicht überlesen werden, da für sie kein Fettdruck verwendet wurde. Einzelne Worterklärungen (Lohnnebenkosten, S. 10) scheinen nicht wirklich gelungen, anderes ist gut und leicht verständlich erklärt.

** Nebensätze, die einen Umstand angeben (zum Beispiel einen Grund, einen Zweck oder eine Folge)

*** Passiv mit „wird“ oder „werden“ (z.B.: „Es wird über die Zusammensetzung des neuen Bundestages abgestimmt.“)

SPD

Die SPD besitzt drei Bundestagswahlprogramme: eine Langfassung mit 66 Seiten, eine Kurzfassung mit 16 Seiten und ein Leichte-Sprache-Wahlprogramm mit 48 Seiten. Das Langprogramm der SPD enthält etwas weniger Nominalstil als das der Union, die Sätze sind kürzer. Unklar sind – vermutlich bewusst unpräzise gehaltene – Formulierungen, wie „tragfähiges Kurzarbeitergeld“ oder „Sichtbarkeit der Ostdeutschen in allen Bereichen erhöhen“. Für Verständnisprobleme sorgen immer mal wieder Fachwörter, wie „direkte Elektrifizierung“, „Umweltdumping“, „Recht auf informationelle Selbstbestimmung“, „pseudonyme Nutzung“ oder „Daten-Treuhänder“. Der Fleschgrad nach Amstad variiert bei ausgewählten Passagen zwischen 23 und und 41, der Text gilt damit als recht bis sehr anspruchsvoll. Das Kurzwahlprogramm der SPD ist bis auf wenige Stellen für Muttersprachler ohne besondere Einschränkungen gut verständlich.

Das Leichte-Sprache-Wahlprogramm der SPD ist für Menschen mit einer leichten oder mittelgradigen geistigen Behinderung gut geeignet. Es handelt sich um qualitativ hochwertige Leichte Sprache, auch wenn Verbesserungen möglich wären durch den Fettdruck von Verneinungen, das Herausheben von wichtigen Wörtern und den Verzicht auf Vorgangspassiv. Für mich persönlich dauert es außerdem zu lang, bis der Leser zu den Zielen der SPD und damit bis zum eigentlichen Wahlprogramm vorstößt. Kürzungspotenzial vorhanden!

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Das Wahlprogramm der Grünen ist mit 272 Seiten das längste, das mir untergekommen ist. Da ist es gut, dass die Partei auch noch ein Kurzwahlprogramm mit nur 6 Seiten hat. Hinzukommt ein Programm in Leichter Sprache. Das Langprogramm der Grünen weist bisweilen recht lange – jedoch nicht allzu verschachtelte – Sätze auf, die aber mehr als 20 Wörter enthalten können. Der Fleschgrad-Index des Langprogramms der Grünen liegt nach Amstad häufig bei unter 10, es ist daher aus sprachlicher Sicht sehr anspruchsvoll und schwer verständlich.

Das Leichte-Sprache-Wahlprogramm von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN umfasst 59 Seiten. Es ist übersichtlich gestaltet, hebt wichtige Wörter hervor, die Leichte Sprache weist eine gute Qualität auf. Kritikpunkte: Auf einigen Seiten fehlen Illustrationen und auch Absätze. Außerdem wird Vorgangspassiv nicht ganz ausgespart. Insgesamt aber ein sehr verständliches Programm.
Wer’s einfach, aber nicht zu leicht mag, ist mit dem Kurzwahlprogramm der Grünen gut bedient.

FDP

Das standarddeutsche Programm der FDP umfasst 68 Seiten. Die Sätze sind meist kurz und bestehen oft aus weniger als 10 Wörtern. Der Fleschgrad des FDP-Programms variiert zwischen 21 und 58, das Prorgramm weist somit sowohl gut verständliche Passagen als auch eher anspruchsvolle Abschnitte auf. Auf Fremdwörter, Fachwörter und Nominalstil verzichtet das FDP-Programm nicht.

Auch die Liberalen bieten ein Kurzwahlprogramm in Leichter Sprache. Das Leichte-Sprache-Wahlprogramm ist insbesondere durch den Einsatz von Farben sehr übersichtlich gestaltet. Illustrationen sind in ausreichender Zahl vorhanden, aber leider in der Regel unscharf. Die Länge des Programms ist für die Hauptzielgruppe mit 13 Seiten angenehm kurz. Die Leichte Sprache weist eine gute Qualität auf, verzichtet jedoch nicht auf Adverbialsätze. Negationspartikel („nicht“) werden womöglich überlesen, da sie nicht hervorgehoben werden.

DIE LINKE

Das Bundestagswahlprogramm der Partei DIE LINKE hat 168 Seiten. Es enthält sowohl eher anspruchsvolle als auch gut verständliche Abschnitte, wobei der Fleschgrad zwischen 36 und 59 liegt.

Daneben stellt DIE LINKE ein recht leicht verständliches, 12 Seiten zählendes Wahlprogramm in Einfacher Sprache sowie ein Leichte-Sprache-Wahlprogramm mit 28 Seiten zur Verfügung.

Das Leichte-Sprache-Programm ist sehr übersichtlich gestaltet und enthält meist gute Worterklärungen. Während zum Beispiel Wörter, wie „Miete“, erklärt werden, die von der Hauptzielgruppe sicher zum Großteil auch ohne Erklärung verstanden würden, kommt es zum Einsatz von zahlreichen eher schwer verständlichen Strukturen (Vorgangspassiv, Adverbialsätze): „Dann können viele wichtige Sachen für alle Menschen vom Staat bezahlt werden.“ Sätze sind teils zu lang, der Seitenumbruch nicht immer günstig gewählt, da Sinnabschnitte getrennt werden bzw. Worterklärungen erst auf der nächsten Seite stehen, siehe zum Beispiel „flüchten“ (S. 19/20). Manchmal werden sogar Nebensätze aneinandergereiht (woran auch Punkte nichts ändern): „Der Staat kümmert sich um alle Menschen. Sie bekommen Unterstützung und Hilfe vom Staat. Wenn sie das brauchen. Damit alle Menschen in Deutschland gut leben können.“ Das Programm enthält zu viele Verneinungen.

AfD

Die Alternative für Deutschland hat mit einem Fleschgrad von 19 bis 32 ein eher schwer verständliches Bundestagswahlprogramm mit 210 Seiten. Leichter verständlich ist das Flugblatt mit den Kernpunkten der Partei.

Ein Programm in Leichter oder Einfacher Sprache gibt es nicht.

Volt Deutschland

Volt bietet für die Bundestagswahl 2021 ein Langprogramm mit 174 Seiten, ein Kurzwahlprogramm mit 40 Seiten und ein Leichte-Sprache-Wahlprogramm mit 31 Seiten.

Von den untersuchten Langprogrammen zählt das von Volt mit einem Fleschgrad zwischen 9 und 24 zu den am schwersten verständlichen Wahlprogrammen. Dies liegt unter anderem an der Verwendung von Nominalstil, langen Sätzen, Passiv und Fachwörtern, wie „Subsidaritätsprinzip“, „makroökonomisch“, „Kapital- und Risikoallokation“. Im Kurzwahlprogramm von Volt sind die Sätze kürzer, die zentralen Punkte werden aufgelistet und/oder farblich hervorgehoben. Das Programm enthält zwar ebenfalls sehr viele Fremd- und Fachwörter, ist aber leichter zu verstehen als die Langfassung.

Das Leichte-Sprache-Wahlprogramm wurde weitgehend nach den Regeln des Netzwerks Leichte Sprache e. V. erstellt. Es enthält pro Seite 1 bis 3 Illustrationen, wichtige Begriffe werden farblich hervorgehoben.

Freie Wähler

Das standarddeutsche Wahlprogramm der Freien Wähler ist 128 Seiten lang. Eine Fleschgrad-Messung von 6 verschiedenen Absätzen à 250 bis 270 Wörtern – wie sie auch bei den anderen Programmen vorgenommen wurde – ergibt Werte von 11 bis 29. Auch das Programm der Freien Wähler gilt damit als sehr anspruchsvoll und eher schwer verständlich.

Das Leichte-Sprache-Wahlprogramm der Freien Wähler ist mit 16 Seiten angenehm kurz. Das Programm ist für Menschen mit einer geistigen Behinderung gut verständlich, Inhalte werden kleinschrittig erklärt. Dennoch ist noch Verbesserungspotenzial vorhanden: So befindet sich bereits auf dem Titelblatt eine nicht erklärte Abkürzung („BTW“ für Bundestagswahl). Die Zeichnungen sind oft sehr klein, zu Farbeinsatz kommt es nicht. Irritierend ist, dass der Seitenumbruch Sinnabschnitte trennt (siehe zum Beispiel (Seite 12/13, Seite 13/14, Seite 15/16).

Zur Autorin

Andrea Halbritter ist Germanistin mit 2. Staatsexamen und vom Netzwerk Leichte Sprache e. V. zertifiziert. Sie erstellt für Politiker, Gedenkstätten, Museen und Ärzte Texte in Leichter und Einfacher Sprache, wobei ihr besonderes Augenmerk der politischen Teilhabe gilt. In den letzten Jahren hat sie über 60 Wahlprogramme in Leichter und Einfacher Sprache erstellt und informiert auf ihrem Blog regelmäßig über barrierearme Kommunikation.

(RP)

Veröffentlicht auf

ROLLINGPLANET ist seit 2012 Deutschlands Onlinemagazin für Menschen mit Behinderung und alle anderen. ROLLINGPLANET ist ein Non-Profit-Projekt, realisiert vom Verein Menschen, Medien und Inklusion e.V., München. Mehr über unser Team erfahren Sie hier.

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