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Was das Mindestlohnurteil für die häusliche Betreuung bedeutet

Fachkräfte aus dem Ausland übernehmen bereits bei vielen Menschen die Versorgung im vertrauten Umfeld. Der finanzielle Kraftakt ist enorm – umso mehr sorgte jüngst eine Grundsatzentscheidung für Aufregung. Von Tom Nebe

Eine Pflegekraft hält in einem Seniorenheim die Hand einer Bewohnerin.
(Foto: Daniel Reinhardt/dpa)

Das Urteil ließ Pflegebranche, Politik und Tausende Pflegebedürftige und ihre Familien aufhorchen: Ausländische Betreuungskräfte, die in einen Privathaushalt entsandt werden, haben Anspruch auf gesetzlichen Mindestlohn, auch in Bereitschaftszeiten. Das haben die Richter am Bundesarbeitsgericht Ende Juni in einem Grundsatzurteil klargestellt (Az.: 5 AZR 505/20).

Die Reaktionen reichten von „Weckruf“ über „Paukenschlag“ bis hin zu einem drohenden „Armageddon“ für die häusliche Pflege. Das konnte die Menschen, die hierzulande in häuslicher Gemeinschaft von einer Betreuungskraft versorgt werden, verunsichern.

Die Befürchtung: Die häusliche Pflege wird nun deutlich teurer. Doch was ändert das Urteil denn nun in der Praxis?

Gewerkschaften begrüßten das Ende der „Billigarrangements“ in der häuslichen Pflege, Patientenschützer und Sozialverbände warnten vor einer Kostenexplosion. Andere Expertinnen und Experten glauben aber: Viel ändern wird sich nicht.

Mindestlohn sei Selbstverständlichkeit

Der Bundesverband für häusliche Betreuung und Pflege (VHBP) etwa begrüßt zwar die Entscheidung der höchsten deutschen Arbeitsrichter, hält jedoch auch fest: Das Urteil spreche eine Selbstverständlichkeit aus. Dass Bereitschaftszeit mit Mindestlohn vergütet werde, sei nichts Neues, sagt VHBP-Geschäftsführer Frederic Seebohm.

Ähnlich sieht es Katrin Andruschow von der Stiftung Warentest, die sich schon jahrelang mit der Pflegebranche beschäftigt: „Nach unserer Auffassung hätte Mindestlohn auch bisher schon gezahlt werden müssen.“ Bei einer rechtskonformen Anstellung.

Branchenverband: Urteil greift oft nicht

Nur: Viele der geschätzt mehreren Hunderttausend, meist aus Osteuropa stammenden Betreuungskräfte, die in Deutschland arbeiten, sind hier illegal beschäftigt. Das gilt für einen überwiegenden Teil, glaubt der VHBP. Und auch für viele legal Tätige greift das Urteil nach Einschätzung von Verbandsgeschäftsführer Seebohm nicht.

Nämlich dann, wenn die Betreuungskräfte als freie Gewerbetreibende tätig sind – wenn sie also selbstständig tätig sind. Oder wenn sie als freie Mitarbeiterinnen mit Sozialversicherungsschutz durch osteuropäische Unternehmen entsandt werden. Von denen, die legal arbeiten, seien die meisten in diesen Modellen tätig, sagt Seebohm. Das seien die Varianten, mit denen die meisten Vermittlungsagenturen im VHBP arbeiteten.

In dem verhandelten Fall am Bundesarbeitsgericht war die Klägerin, eine Frau aus Bulgarien, direkt bei einer bulgarischen Firma angestellt. Sie hat ihre Firma auf Zahlung des Mindestlohns verklagt und bekam Recht. Das heißt: Angestellte Betreuungskräfte können laut dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts auf Mindestlohn pochen, auch in Bereitschaftszeiten. Den Firmen oder Menschen, bei denen sie angestellt sind, drohen in diesem Fall womöglich empfindliche Nachzahlungen.

Aber: Genau wie eine Anstellung direkt bei dem Menschen, der die Betreuung benötigt, sei die feste Anstellung bei einer Firma im Ausland ein eher seltenes Modell, sagt Seebohm, in dessen Verband Agenturen und Dienstleister organisiert sind, die ausländische Betreuungskräfte vermitteln.

Mit deutschem Arbeitsrecht nicht abzubilden

Dass das Angestelltenmodell vergleichsweise wenig verbreitet ist, hat mit den Anforderungen der häuslichen Betreuung zu tun. „Diese Dienstleistung ist nur selten mit einer Nine-to-Five-Arbeitszeit umsetzbar und lässt sich mit klassischem deutschen Arbeitsrecht nicht abbilden, weil man leicht in die Bereitschaftsfalle tappt“, begründet Seebohm.

Er betont zugleich, dass es nicht darum geht, dass die Betreuungskraft rund um die Uhr parat stehen muss. Das wäre Ausbeutung. Festgelegte Ruhezeiten und freie Tage muss es geben. Aber meistens ist an den Arbeitstagen die Einsatzzeit eben gestückelt, und manchmal sind die Kräfte einfach nur „da“, also gewissermaßen in Bereitschaft – streng nach deutschem Arbeitsrecht müsste man dann beispielsweise für eine Vollzeit-Betreuung monatlich einen fünfstelligen Betrag einplanen.

Wie die Summe zustande kommt? Der Lohn für eine Betreuungskraft liegt im Monat je nach Vermittler und Qualifikation grob zwischen 2.300 und 3.000 Euro brutto, taxiert Seebohm. Wer eine Vollzeit-Betreuung will, müsste, wenn das deutsche Arbeitsrecht zur Anwendung käme, diesen Betrag also mal drei oder vier nehmen, weil dann drei oder vier Betreuungskräfte im Haus arbeiten müssten. Das können sich die wenigsten leisten.

Betreuungsbedarf realistisch einschätzen

Doch meist lässt sich der Bedarf an Betreuung auch mit einer Person realistisch abbilden – seriöse Vermittler prüfen das auch ganz genau, ehe sie eine Betreuungskraft aus Osteuropa schicken.

Es muss jedem klar sein: Bei der häuslichen Betreuung geht es um Hilfe im Haushalt, sei es Putzen oder Kochen, um Gesellschaft und um Unterstützung bei gewissen Tätigkeiten der Grundpflege, etwa beim Waschen. „Das ist keine Betreuung rund um die Uhr“, sagt Katrin Andruschow. „Man muss also nicht drei, vier Leute beschäftigt haben.“

Wobei es etwa bei Menschen mit dementiellen Einschränkungen oder besonderen Pflegebedürfnissen durchaus Teil der Aufgaben sein kann, dass die Betreuungskraft nachts zu bestimmten Zeiten tätig ist. Entsprechend sind dann Ruhezeiten am Tag und Freizeitausgleich einzuplanen. „Da muss man immer schauen“, sagt Andruschow:

„Was kann ich dem Angehörigen und der Betreuungskraft persönlich zumuten – und was ist in punkto adäquater Versorgung und Einhaltung von Arbeitszeiten grundsätzlich vertretbar?“

Laut Branchenverband VHBP sind sich die meisten vermittelten Betreuungskräfte aus Osteuropa ihres Wertes längst bewusst. Sie lassen sich weder mit Dumpinglöhnen abspeisen, noch übernehmen sie ein Arbeitspensum, das über die Absprache der Familie oder des Betreuungsbedürftigen mit der Vermittlungsagentur hinausgeht. In dem Fall reisten sie durchaus binnen Stunden wieder ab.

Die Grenzen der häuslichen Betreuung

Man muss an dieser Stelle vielleicht auch einmal klarstellen: Betreuung und professionelle Pflege sind nicht gleichzusetzen.

„Wenn Pflegebedürftigkeit da ist, ist es immer sinnvoll und wichtig, eine professionelle Pflegekraft hinzuzuziehen – spätestens aber ab dem Pflegegrad 3 sollte ein ambulanter Pflegedienst zusätzlich tätig werden. Da wird es natürlich insgesamt teurer“,

sagt Andruschow.

Bei einer häuslichen Betreuungskraft geht es oft vor allem darum, dass die Versorgung des bedürftigen Menschen sichergestellt ist und die Angehörigen ihn oder sie in Gesellschaft wissen.

Risiko Schwarzarbeit und Scheinselbstständigkeit

Wer – um Geld zu sparen – eine Betreuungskraft schwarz beschäftigt, sollte immer im Hinterkopf haben: Fliegt die Sache auf, müssen die Sozialabgaben, die eigentlich zu zahlen gewesen wären, rückwirkend abgedrückt werden. Das sind schnell mal Tausende Euro. Zudem droht ein Strafverfahren, wie Andruschow sagt. Und auch wenn die Person scheinselbstständig ist, kann das auf die Betreuungsbedürftigen und ihre Familien zurückfallen, wenn das rauskommt.

Die Expertin der Stiftung Warentest sagt, dass das Selbstständigen-Modell Tücken habe. Ob jedoch eine Scheinselbstständigkeit vorliegt, lasse sich nicht pauschal sagen. „Das entscheiden die Gerichte immer im Einzelfall.“ Beispielsweise gebe es bei Vermittlungsagenturen, die Selbstständige vermitteln, oft Wechselmodelle. Die Betreuungskräfte haben dann mehrere Kunden im Jahr. Wer jedoch dauerhaft nur in einem Haushalt arbeitet und keine weiteren Auftraggeber hat, dürfte wohl als scheinselbstständig gelten. Für Selbstständige greifen weder das deutsche Arbeitszeitgesetz noch der Mindestlohn.

Österreich als Vorbild?

Aus Sicht von Branchenvertreter Seebohm würde es vieles zum Positiven ändern, wenn Betreuungspersonen aus Osteuropa in Deutschland als arbeitnehmerähnliche Personen mit Sozialversicherungsschutz anerkannt würden – das würde für Rechtssicherheit sorgen und viele aus der Illegalität in die Legalität holen, glaubt er.

In Österreich gibt es dafür seit 2007 eine rechtliche Grundlage. Die Personen seien dann frei darin, ihre Einsatzzeiten und das davon abhängige Honorar zu vereinbaren und „auf ständig verändernde Versorgungslagen“ zu reagieren, schrieb der VHBP in einer Reaktion auf das Urteil des Bundesarbeitsgerichts. In Deutschland ist das aber nicht möglich.

Geprüft wurde das österreichische Modell durchaus. In einem vom Bundesgesundheitsministerium beauftragten Gutachten von 2019 hieß es jedoch unter anderem:

„Das Kernproblem der 24-Stunden-Betreuung wurde durch die Reformen in Österreich nicht gelöst.“

Häufig erfüllten offiziell als selbstständig geltende Kräfte nicht das Kriterium der Selbstständigkeit, und zwar mangels persönlicher und wirtschaftlicher Unabhängigkeit. Was bedeutet: Scheinselbstständigkeit droht.

Das Resümee des Gutachtens lautete an der Stelle: „Alles in allem dürfte das österreichische Recht kaum eins zu eins auf Deutschland übertragbar sein.“

Pflegegeld und steuerliche Entlastung

Bleibt die Frage: Welche Optionen der finanziellen Entlastung gibt es für Menschen, die auf häusliche Betreuung angewiesen sind? Katrin Andruschow nennt mehrere Optionen beispielhaft: So lässt sich das Pflegegeld für die Bezahlung der Betreuungskraft in Anspruch nehmen. Ein Teil der Kosten ist auch steuerlich absetzbar, bis zu 4.000 Euro im Jahr. Zudem haben die Vermittlungsagenturen von Betreuungskräften häufig differenzierte Preismodelle, etwa bezüglich der gewünschten Deutschkenntnisse.

Unterschätzen sollte man die Ausgaben für die häusliche Pflege nicht. Neben den Kosten für die Betreuungskraft kommen auch Unterhaltskosten für die Räumlichkeiten (Eh-da-Kosten) hinzu und gegebenenfalls auch noch Beträge für professionelle Pflegeleistungen und weiteres.

„Wenn man das vergleicht mit der stationären Pflege im Heim, kommt man ungefähr auf den gleichen Betrag“, sagt Frederic Seebohm.

„Finanziell attraktiver als ein Leben im Heim ist die Pflege zu Hause also nicht unbedingt.“

Doch das allein ist ja oft nicht das Ausschlaggebende: Viele Menschen wünschen sich, in ihren vier Wänden – ihrer gewohnten Umgebung – weiterzuleben.

Fazit: Dass Urteil des Bundesarbeitsgerichts hat den Finger in die Wunde gelegt und deutlich die Mängel in dieser Säule des deutschen Pflegesystems aufgezeigt. Während sie für viele keine unmittelbaren praktischen Folgen haben dürfte, so zeigt die Entscheidung der Richter wieder einmal: Es müssen Lösungen gefunden werden, damit Betreuungskräfte flächendeckend fair bezahlt werden, die häusliche Pflege für Betroffene aber zugleich bezahlbar bleibt. Die Probleme sind schon lange bekannt.

(RP/dpa)

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