Der GMU sieht eine Einschränkung bei selbstbestimmter Teilhabe für gehörlose Menschen im Sinne einer gleichwertigen Sprachentwicklung und freier beruflicher Entwicklung. So würde immer mehr von Ämtern, Behörden, medizinischen Gutachten und von der Politik bestimmt – ohne gehörlosen Menschen mit einzubeziehen.
Die Deutsche Gebärdensprache ist in Deutschland seit 2001 im Gesetz verankert und seit 2002 als eigenständige Sprache im Bundesgleichstellungsgesetz anerkannt. Die UN-Behindertenrechtskonvention besagt, dass die Gebärdensprache ein Kulturgut ist, und dementsprechend die Teilhabe sowie die Förderung durch die Gebärdensprache gleichwertig zu behandeln sind.
Nach 20 Jahren der gesetzlichen Anerkennung und nach über 10 Jahren der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention fällt dem GMU e.V. jedoch aktuell eine gefährliche Entwicklung bezüglich der Teilhabe der gehörlosen Menschen auf. Allein im Juli und August 2021 wurden drei Fälle an den Verein herangetragen, die sinnbildlich für diese negative Entwicklung stünden:
Fall 1: Sozialmedizinisches Gutachten ohne Kundenkontakt
Eine 18-jährige gehörlose angehende Auszubildende als Kauffrau für Büromanagement (Schwerbehindertenausweis GdB 100 / Merkzeichen GL), die auf die Deutsche Gebärdensprache angewiesen ist und gehörlose Eltern hat, sei auf die Agentur für Arbeit zugegangen, da sie zum erfolgreichen Absolvieren ihrer Ausbildung auf den Einsatz von Gebärdensprachdolmetscher angewiesen ist.
Die Bundesagentur für Arbeit gab daraufhin ein Gutachten in Auftrag, um eine Förderung der Gebärdensprachdolmetschereinsätze während der Ausbildung zu überprüfen. Dementsprechend habe Professor Dr. W. ein sozialmedizinisches Gutachten über die Auszubildende abgelegt:
„Aus den vorliegenden fachärztlichen Befundunterlagen ergibt sich aus Sicht des Ref. keine zwingende Notwendigkeit für den Einsatz eines Gebärdendolmetschers während der Ausbildungsmaßnahme. Eine erfolgreiche Teilnahme an der Ausbildung erscheint durch technische Hilfsmittel möglich.“
Die GMU kritisiert, dass dem Spezialisten jegliches Hintergrundwissen bezüglich Gehörlosigkeit und der Deutschen Gebärdensprache fehle und kein persönlicher Kontakt mit der Auszubildenden stattgefunden habe.
Auf Nachfrage des Gehörlosenverbandes, warum ein Gutachten trotz des vorhandenen Schwerbehindertenausweises mit Merkzeichen GL erforderlich sei, habe die Bundesagentur für Arbeit auf das notwendige Gutachten verwiesen:

„Der Grad der Behinderung im Schwerbehindertenausweis bzw. das eingetragene Merkmal alleine sind für die Bestimmung des individuellen Förderbedarfs zu allgemein gehalten. Aus diesem Grund ist ein Gutachten des behandelnden Arztes erforderlich, um eine einzelfallbezogene Beurteilung durch die bewilligende Stelle vornehmen zu können.“
Diese Antwort ist nach Ansicht des GMU unverständlich, da zum einen durch das Merkzeichen GL bereits bestätigt sei, dass die entsprechende Person dauerhaft gehörlos ist und zum anderen auch laut dem SGB IX ein Recht auf Kommunikation in Gebärdensprache bestünde.
Die kurzfristige Lösung der Bundesagentur für Arbeit: Das Mädchen muss vorübergehend das Berufsbildungswerk für Menschen mit Hörbehinderung (BBW) statt die reguläre Berufsschule besuchen – hierbei sei aber nicht sichergestellt, dass der Unterrichtsinhalt übereinstimme.
Der GMU sieht diese ungleichwertige Behandlung sehr kritisch und nicht im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention an, da die Bundesagentur für Arbeit über die berufliche Teilhabe entscheidet und das Selbstbestimmungsrecht außer Kraft setze.
Fall 2: Spendenaufruf für ein Cochlea-Implantat
Eine Familie aus Osteuropa wandte sich mit einem Spendenaufruf für die laut eigener Aussage zwingend notwendige Cochlea-Implantat-Operation für ihr taubes Baby an den Gehörlosenverband München und Umland. Die Familie könne sich die teure Cochlea-Implantat-Operation in ihrem Heimatland nicht leisten und sowieso sei diese nur in Deutschland möglich.
Verwundert war der GMU über die beigefügte ärztliche Bestätigung der LMU-Klinik, die zwar den Spendenaufruf unterstützen möchte, allerdings Gehörlosigkeit abwertet: „Sollte keine Cochlea-Implantation durchgeführt werden, drohen schwerwiegende Einschränkungen der kindlichen
 Sprach- und allgemeinen Entwicklung.“

Der Befund der Klinik spricht von schwerwiegenden Einschränkungen der kindlichen
 Sprach- und allgemeinen Entwicklung. (Foto: gofundme.com/f/help-luca-to-hear-the-world)
So entstehe laut Verband der Eindruck, dass Gehörlose ohne CI nicht entwicklungsfähig seien und auch keine Bildung in Gebärdensprache vermittelt werden könne. Diese Aussage stehe in direktem Widerspruch zur UN-Behindertenrechtskonvention und dem Bundesgleichstellungsgesetz, stelle eine Herabwürdigung von gehörlosen Menschen ohne CI und eine Diffamierung des Menschenrechtes dar. Auch stelle sie laut GMU nicht den aktuellem Forschungsstand dar.
Fall 3: Unkenntnis des politischen Nachwuchses
In letzter Zeit würden sich immer mehr Politiker mit der Frage, warum gehörlose Menschen sich nicht einer CI-Operation unterziehen können, an den Gehörlosenverband gewandt. Dies sei zwar eine gut gemeinte Frage, aber über dieses Thema wurde bereits vor vielen Jahren ausgiebig debattiert und es wurde auch anhand von mehreren wissenschaftlichen Studien aufgezeigt, wie wichtig der Zugang zur Gebärdensprache für die Entwicklung gehörloser Kinder ist, so der GMU. Nach Ansicht des Verbandes, der das Cochlea-Implantat als „Allheilmittel“ kritisch sieht, sei dies auf die hohe Fluktuation bei politischen Entscheidungsträgern zurückzuführen und stelle einen Rückschritt in der Debatte dar.
Der Gehörlosenverband München wünscht sich, dass die „neuen Gesichter“ aktiv auf Gehörlosen-Organisationen und -Verbände zugehen und sich über den Alltag von Gehörlosen und die Verwendung von Gebärdensprache informieren.
(RP/PM)

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