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Hier geht es zu Teil 1: Mein erster Rollstuhl – wie er heute undenkbar wäre
Mit den Jahren wuchs ich förmlich in den Rollstuhl hinein, gewann Macht über ihn. Er blieb zwar ein schweres Ungetüm. Aber mit zunehmender Körpergröße wurde ich ihm ebenbürtig. Ich lernte auf dem Ochsen zu reiten. Da ich in einem Schulheim für körperbehinderte Kinder aufwuchs, entdeckte ich aber bald, dass es neben Rollstühlen, die wie Ochsen zu reiten waren, auch elegantere gab: die Pferde und Ponys unter den Rollstühlen. Sie waren leichter gebaut und schmaler. Auch farblich unterschieden sie sich vom grau-blauen Einerlei aus verchromtem Stahl und dunkelblauem oder grauem Sitz. Allerdings waren jene Rollis noch weit von der Art späterer Modelle entfernt, die dann immer farbiger und schicker wurden. Heute wirken manche Rollstühle, als wären sie modische Accessoires.
Die Schülerinnen und Schüler der achten und neunten Klasse im Schulheim hatten solche wendigeren Rollis und waren darin erstaunlich beweglich. Einen solchen musste ich haben. Und dann wollte ich lernen, auf den Hinterrädern zu balancieren. Das sah toll aus und ließ einen älter erscheinen als man war – na ja, zumindest souveräner. Wenn man denn nicht rückwärts umfiel und sich lächerlich machte. Denn manche konnten danach nicht mehr selbständig vom Boden in den Rollstuhl zurück steigen und mussten sich helfen lassen, was in der Hierarchie der Rollifahrer massiv Punkte kostete.
Es ging dann noch viele Jahre, bis ich den ersten sogenannten Aktivrollstuhl erhielt. Man ist darin einfach weniger behindert. Wirklich! Dieser Stuhl ist eine Art Maßanzug auf Rädern: auf deine Körpergröße zugeschnitten und möglichst „kipplig“ eingestellt, also so, dass er sich leicht nach hinten kippen und in die Balance bringen lässt. Kleine Hindernisse, zum Beispiel eine Bordsteinkante, lassen sich auf diese Art problemlos überwinden – sofern man nicht an Händen oder Armen behindert ist und sich geschickt anstellt. Die Welt rückt dadurch in greifbare Nähe. Man kann sie sich einfacher und vor allem selbständig erobern.

In etwa so sah mein erster Rollstuhl aus. (Von Ane Cecilie Blichfeldt/norden.org, CC BY 2.5 dk)
In diesem Zusammenhang möchte ich eine Episode erzählen, die zum Glück verjährt ist, mir also heute kein Ungemach mehr bereiten kann, damals aber grobfahrlässig und nur durch mein junges Alter zu entschuldigen war. Ich war bereits erwachsen, als ich einen Aktivrollstuhl bekam, wenn ich mich recht erinnere, der erste in meinem Leben. Und mit dem eroberte ich mir an einem Strand in Südfrankreich das Meer. Damit ich nicht mühsam auf dem Sand ins Meer robben musste, fuhr ich gleich mit dem Rollstuhl in die sanfte Dünung, so dass ich bequem vom Stuhl ins Wasser gleiten und vor allem problemlos vom Wasser wieder zurück auf den Sitz des Rollstuhls steigen konnte. Ein wunderbares Erlebnis! Unvergessen bis heute. Doch wenige Wochen später zerbröselte der Rollstuhl gleichsam unter mir. Salzwasser und Sand waren eine fatale Mischung für sein Gestänge. Und in aller Eile musste ich bei der Invalidenversicherung (IV) einen neuen beantragen. Die administrativen Wege waren damals noch etwas kürzer als heute. Nur wenige Wochen später bekam ich eine entschiedene behördliche Absage. Ich hätte erst in drei Jahren wieder einen Rollstuhl zugute. Und überhaupt sei ihnen mein hoher Verschleiß an Rollstühlen aufgefallen und inzwischen aktenkundig.
In einem ebenso frechen wie erbosten Antwortschreiben beklagte ich mich über die Qualität der Rollstühle, die dafür geeignet sein mögen, in den Korridoren der Behinderten- und Altersheime auf Spannteppichen hin und her zu rollen, aber bestimmt nicht dafür, einen jungen Behinderten, der in die Welt hinaus möchte, diesen Weg zu erleichtern. Und das sei nun mal nicht mein Versäumnis, so dass ich mich auch fortan nicht durch die schlechte Qualität der hiesigen Rollstühle daran hindern ließe, die Welt zu entdecken. Weshalb ich sie darum bitten möchte, nochmals auf ihren Entscheid zurück zu kommen. – Sie kamen nochmals darauf zurück. Ich bekam meinen Rollstuhl, ging aber fortan pfleglicher damit um.
Tendenz zur Zweiklassenversorgung

Wenn ein Rollstuhl zum modischen Accessoire wird. „Küschall Competition“: ein Rollstuhl der modernen Bauart. (Von Tim99~commonswiki – Eigenes Werk, CC-BY-SA 4.0)
Die Zurückhaltung der Invalidenversicherung hatte auch damit zu tun, dass ein solcher Aktivrollstuhl sündhaft teuer war. Zwischen zweitausend und dreitausend Franken musste man schon damals hinblättern. Und das nicht für ein Luxusmodell, sondern für einen relativ schlichten, individuell angepassten, nicht allzu schweren und doch stabilen Rollstuhl. Heute kommt man dafür nicht unter fünftausend Franken weg. In der Schweiz werden Rollstühle in der Regel von der IV bezahlt. Nicht zuletzt deshalb sind die Stühle wie auch die anderen Hilfsmittel so teuer. Bei Versicherungsleistungen gelten generell höhere Preise. Dumm gelaufen! Manche sagen, die Preise seien wegen der kleinen Fertigungsserien so hoch – und wegen des hohen Beratungsaufwands.
Hinzu kommt, dass heute der Rollstuhlbau kaum mehr technische Grenzen kennt. Stühle aus Titan oder Karbonfasern oder einer Kombination von beiden sind keine Seltenheit. Bei manchen Modellen sind die Vorderräder gefedert. Andere sind rundum gefedert. Und wo immer möglich wird Gewicht eingespart. Im Bereich der Elektrorollstühle ist das Tummelfeld der technischen Innovationen noch sehr viel weiter. Keine Frage, auch dieser Hang zu Hightech treibt die Preise in die Höhe. Und die Versicherungen finanzieren längst nicht mehr jede Extravaganz. Im Gegenteil: Ihre Leistungen stehen unter Druck, ihr Entgegenkommen, das es früher durchaus gab, schmilzt dahin wie Schnee im Frühling. Die Zweiklassenversorgung in diesem Bereich ist Wirklichkeit geworden: mit einer Klasse von Menschen mit Behinderung, die – zumindest in der Schweiz – Zugang zu einer akzeptablen Versorgung mit Hilfsmitteln hat – vielleicht müsste man sagen: noch –, und einer Klasse von Behinderten, die je nach Behinderungsart und Versicherung – und je nach privatem finanziellen Hintergrund – Zugang zur ganzen Palette der Hilfsmittel hat. Diese Kluft hat sich erst in den letzten Jahren aufgetan und entspricht einem gesamtgesellschaftlichen Trend. Und in der Schweiz ist das Klima diesbezüglich noch immer mild.
Lesen Sie nächste Woche Teil 3 und Ende: Es geht auch ohne Rollstuhl
Unser Kolumnist Walter Beutler wurde 1956 in Basel geboren. Zwei Jahre später erkrankte er an Kinderlähmung und ist seither Rollifahrer. Zwar im Heim aufgewachsen, aber trotzdem kein Heimkind. Zwar ein Mensch mit Körperbehinderung, aber trotzdem nicht behinderter als die anderen auch. Der Schweizer veröffentlicht regelmäßig auf seinem Blog Walter B.s Textereien und auf ROLLINGPLANET.
Walter Beutler hat zudem das Buch „Mit dem Rollstuhl ans Ende der Welt – Meine Reise durch Indien“ geschrieben. Sie können es im sozialen Buchshop BmitW (Bücher mit Wirkung) bestellen, der Vereine und gesellschaftliche Projekte unterstützt.
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Sammy
10. August 2021 um 6:02
bei allem Ernst was das Thema anbelangt:
bei dem “mit dem Rolli INS Meer” musste ich schon sehr schmunzeln, ging mir vor 25 Jahren genauso. Obwohl der Etac aus Titan war, musste ich ihn Tage später erstmal komplett zerlegen und gangbar machen