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Bis ans Ende der Welt

Sport ist Mord. Und Behindertensport ist…

Aus einem ehemals therapeutischen Projekt wurde ein Leistungssport. Mit allen Schattenseiten. Von ROLLINGPLANET-Kolumnist Walter B.

Walter B. (Foto: Privat)
Walter B. (Foto: Privat)
Unsere Kolumnisten schreiben unabhängig von ROLLINGPLANET. Ihre Meinung kann, muss aber nicht die der Redaktion sein.

Sport ist Mord. Und Behindertensport ist Mord an Behinderten. So einfach ist das. Oder etwa nicht? Warum soll für den Behindertensport nicht gelten, was für den Sport der Normalos erwiesenermaßen zutrifft? Hier wie dort müssen sich die Leistungen immer wieder überbieten. Schneller, stärker, weiter ist die Losung – bei Behinderten wie bei Nichtbehinderten. Und nie darf die fatale Spirale zu tanzen aufhören. Sie dreht sich immer weiter – bis es eben Leben kostet. Die Geschichte des Sports ist voller Beispiele dafür.

Hochleistungssport, und von dem sprechen wir hier, basiert auf gnadenloser Konkurrenz, durch die der Gegner ausgeschaltet oder zumindest überboten wird. Natürlich zeigt man sich – hat man mal gewonnen – wieder versöhnlich, umarmt den Gegner sportlich oder schüttelt ihm wohlwollend die Hand. Solche Gesten verhindern, dass der Sport vollends ins Zwielicht gerät und seinen trotz allem noch erstaunlich guten Ruf ganz verliert.

Die Jagd nach neuen Rekorden

Hochleistungssport muss auch immer wieder für neue Rekorde sorgen. Ohne dies würde das Interesse daran schnell erlahmen. Der ganze Zirkus würde sich totlaufen. Gibt es etwas Langweiligeres als Menschen zuzusehen, zum Beispiel Rollifahrern, die auf der Tartanbahn ihre schweißtreibenden Runden drehen, ohne dass dabei nicht zumindest entfernt die Möglichkeit besteht, dass ein neuer Rekord aufgestellt wird? Das wäre nur noch langweilig, öde, zumindest für die ZuschauerInnen. Sport ohne Zehntelssekunden ist wie eine Suppe ohne Salz: fade und kaum genießbar.

Die Schweizer Handbikerin Sandra Graf beim Siegeslauf des Marathon de Paris.

Die Schweizer Handbikerin Sandra Graf beim Siegeslauf des Marathon de Paris. (Foto: Siobán Silke/flickr)

Und diese Zehntelssekunden haben natürlich längst auch im Behindertensport Einzug gehalten. Der hat deutlich zum Normalsport aufgeschlossen. Er führt nicht mehr ein Schattendasein, sondern ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen, wurde gleichsam normalisiert. Ein Zeichen dafür ist das Dopingproblem. Gratuliere!

Dabei war der Behindertensport ursprünglich mal ein eher therapeutisches Projekt, ein durchaus vertretbares Mittel der Rehabilitation, insbesondere von Querschnittgelähmten. Die therapeutische Botschaft war: Auch nach einem Unfall geht das Leben weiter. Und es macht auch weiterhin Spass, unter anderem dank dem Sport. Das Argument hat bei vielen jungen Unfallopfern verfangen – und der Sport so seine heilende Wirkung entfaltet. So weit, so gut. Was kann man schon dagegen haben?

Sportfans als moderne Gläubige

Doch der Sport ist inzwischen zu einer Art Religion geworden – für die Behinderten ebenso wie für die Normalos. Blind glaubt man an seine erlösende Kraft. Sportfans sind die modernen Gläubigen, die bedingungslos für ihre Mannschaft, ihre Glaubensgemeinschaft eintreten, und letztlich auch vor Gewalt nicht zurückschrecken. Und Kritiker des Sports werden als Ketzer betrachtet, als Spielverderber und Nestbeschmutzer. Das könnte auch dem Verfasser dieser Zeilen blühen…

Dabei möchte er nur zu bedenken geben, dass sich mit der „Normalisierung“ des Behindertensports auch das Leistungsprimat – was sage ich? –, das Hochleistungsprimat endgültig in der Behindertenwelt breit gemacht hat. Leistungsstarke Behinderte sind gute Behinderte. Alle, die ihre Behinderung überkompensieren und besondere, hervorragende Leistungen erbringen, sei es im Sport, sei es beruflich, sei es wo immer, all die Behinderten werden bewundert und auf den Schild gehoben. Die sind Vorbilder – auch für die Normalos. Und die andern Behinderten? Die gehen vor lauter Euphorie vergessen.

***

PS: Ich persönlich konnte nie, aber auch gar nie mit Sport etwas anfangen. Mein Körper hat sich jeweils innig geweigert, so barbarisch repetitive und sinnlose Bewegungsmuster auszuführen, wie sie im Training eben anfallen. Innert Kürze ist er wie natürlich in eine fast schon lethargisch zu nennende Behaglichkeit zurückgeglitten. Andere nennen das wohl Faulheit. Vielleicht bin ich deshalb zum Sportverächter, ja -ketzer geworden. Man möge einem armen Sünder vergeben.

Unser Kolumnist Walter Beutler wurde 1956 in Basel geboren. Zwei Jahre später erkrankte er an Kinderlähmung und ist seither Rollifahrer. Zwar im Heim aufgewachsen, aber trotzdem kein Heimkind. Zwar ein Mensch mit Körperbehinderung, aber trotzdem nicht behinderter als die anderen auch. Der Schweizer veröffentlicht regelmäßig auf seinem Blog Walter B.s Textereien und auf ROLLINGPLANET.

Walter Beutler hat zudem das Buch „Mit dem Rollstuhl ans Ende der Welt – Meine Reise durch Indien“ geschrieben. Sie können es im sozialen Buchshop BmitW (Bücher mit Wirkung) bestellen, der Vereine und gesellschaftliche Projekte unterstützt.

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ROLLINGPLANET ist seit 2012 Deutschlands Onlinemagazin für Menschen mit Behinderung und alle anderen. ROLLINGPLANET ist ein Non-Profit-Projekt, realisiert vom Verein Menschen, Medien und Inklusion e.V., München. Mehr über unser Team erfahren Sie hier.

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