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Spätestens seit Donald Trump hat sich herumgesprochen, dass Twitter ein idealer Ort für Politikerinnen und Politiker ist. Ungefiltert können sie dort ihre Botschaften unters Volk bringen. In kurzen, knappen Worten und mit GIFs, Videos und Bildern.
Während ich als blinder Mensch die geposteten Tweet-Texte von Abgeordneten und Regierungschefs noch eigenständig lesen kann – sie werden mir mit Hilfe einer Screenreader-Software und einer künstlichen Sprachausgabe vorgelesen -, ist es spätestens bei den Fotos vorbei mit der digitalen Teilhabe. Dabei bietet Twitter eine Funktion an, die es Nutzerinnen und Nutzern ermöglicht, ihren geposteten Fotos einen Alternativtext hinzuzufügen. Hierbei handelt es sich um eine kurze Bildbeschreibung, die den sehenden Nutzer*innen nicht ausgegeben wird, die aber vom Screenreader erkannt und mir somit vorgelesen wird.
Joe Bidens Signal: Ich poste hier auch für euch!
Als die US-Präsidentschaft von Donald Trump auf Joe Biden überging, änderte sich nicht nur der Ton in den getwitterten Botschaften enorm, sondern es zogen auch die Alternativtexte für blinde und sehbehinderte Menschen ins Weiße Haus ein.
Let’s finish strong, folks. We’ve got to fight this virus until the end. pic.twitter.com/WP671noMLM
— President Biden (@POTUS) May 23, 2021
Die Alternativtexte lauten schlicht „President Biden and Dr. Fauci elbow bump“ oder „President Biden walks at the Coast Guard Acedemy’s commencement“. Auch wenn nicht alle Bilder des US-Präsidenten auf Twitter einen Alternativtext haben und so der Verdacht nahe liegt, dass nicht alle Mitarbeitenden im Social-Media-Team des Präsidenten beim Posten an diese Funktion denken, so ist es dennoch bemerkenswert, wenn ein so relevanter Account – mit über elf Millionen Follower*innen – die Alternativ-Text-Funktion nutzt und so blinden und sehbehinderten Menschen signalisiert: „Ich poste hier auch für euch.“
I was honored to speak at the Coast Guard Academy’s Commencement today. To the class of 2021: congratulations. May God protect you all as you set out on your journeys, and may God protect all those who wear the uniform of the United States of America. pic.twitter.com/48GxgIGtGU
— President Biden (@POTUS) May 20, 2021
Und wie sieht es in Deutschland aus?
Stellt sich die Frage: Wie ist das eigentlich hier in Deutschland? Passend zur anstehenden Bundestagswahl habe ich mir einmal die Twitter-Accounts der drei Kanzler-Kandidat*innen angeschaut.
CDU-Chef Armin Laschet
In seinem Twitter-Profil finden sich leider keine Alternativtexte. Stattdessen liest meine Sprachausgabe bei den einzelnen Posts nur den eigentlichen Text des Tweets vor, danach sagt sie nur „Bild“ oder „3 Bilder“. Ich weiß daher nicht, was auf diesen zu sehen ist, ob dort ergänzende Infos versteckt sind, zum Beispiel in Form eines fotografierten Textes, oder ob das Foto eventuell eine Botschaft über die Bildsprache transportiert.
@JohnKerry ist der Klima-Außenminister der USA??. Auch die Europäische Union braucht jetzt eine engagierte Klima-Außenpolitik. Wir wollen Deutschland zum klimaneutralen Industrieland umgestalten.Das Modernisierungsjahrzehnt muss Arbeitsplätze und den sozialen Zusammenhalt sichern pic.twitter.com/xAYim7EIVV
— Armin Laschet (@ArminLaschet) May 17, 2021
SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz
Das Gleiche gilt für den Twitter-Account des SPD-Kanzlerkandidaten und Bundesfinanzministers Olaf Scholz: Auch hier, neben den Botschaften in Textform, Bilder ohne Alternativtext. Ich kann auch hier aus dem Zusammenhang nur vermuten, was sich auf den Fotos befindet. Nie weiß ich, ob mir eine wichtige Botschaft entgeht.
Es ist leider eine bittere Wahrheit: Antisemitismus ist präsent auf deutschen Schulhöfen, in den sozialen Medien, in Stereotypen und Vorurteilen bis weit in die Mitte unserer Gesellschaft hinein.
Wir müssen dagegen aufstehen. Täglich, im Kleinen wie im Großen! pic.twitter.com/rsFTBjjxSX
— Olaf Scholz (@OlafScholz) May 20, 2021
Annalena Baerbock, Kanzlerkandidatin BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN
Bei Annalena Baerbock sieht es da bei vielen Tweets anders aus. Die Kanzlerkandidatin und Co-Vorsitzende der Grünen twittert immer häufiger mit Bildbeschreibung. Diese fallen häufig bemerkenswert ausführlich aus. Zum Beispiel heißt es dann „Annalena Baerbock (rechts) und John Kerry (links) stehen auf dem Dach der US-Botschaft in Berlin. Im Hintergrund sieht man die Reichstagskuppel. Beide gucken in die Kamera und tragen Masken.“
Es wäre ein starkes Zeichen, wenn ?? und ?? gemeinsam auf der #COP26 in Glasgow konkrete Maßnahmen für die nächsten Jahre vorstellen würden. Es geht nicht um Klimaziele in ferner Zukunft, sondern um konkretes Handeln in diesem Jahrzehnt. Darüber hab ich mit @JohnKerry gesprochen. pic.twitter.com/IHcyMxlZMx
— Annalena Baerbock (@ABaerbock) May 18, 2021
Fazit
Während Armin Laschet und Olaf Scholz, besser wohl deren Social-Media-Teams, offenbar noch nie von der Funktion der Bildbeschreibung gehört haben – oder falls doch, ignorieren sie diese Option -, scheint es im Team von Annalena Baerbock ein Bewusstsein dafür zu geben. Das ist positiv.
Bis aber Barrierefreiheit in den sozialen Medien und in der politischen Kommunikation zum Standard gehört, ist es noch ein sehr weiter Weg.
Heiko Kunert (45) ist Geschäftsführer des Hamburger Blinden- und Sehbehindertenvereins. Er ist seit seinem sieben Lebensjahr blind, engagiert sich für eine inklusive und barrierefreie Gesellschaft und scheibt auf heikos.blog über Blindheit und das Leben.
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