Samstag, 4. September 2021: Die ROLLINGPLANET-Zusammenfassung mit den wichtigsten Ergebnissen, Ereignissen und Stimmen des 10. und vorletzten Wettkampftags der Paralympischen Spiele (24. August – 5. September 2021) in Tokio.
„Vielleicht das Leben gerettet“: Deutsche Ärzte reanimieren Belgier
Zwei deutsche Ärzte haben bei den Paralympics in Tokio den belgischen Rollstuhltennis-Spieler Joachim Gerard nach einem Kreislaufkollaps wiederbelebt. „Sie waren die Ersten, die bei ihm waren und haben ihm geholfen, wieder zu Bewusstsein zu kommen“, sagte ein Sprecher des belgischen Verbandes der Deutschen Presse-Agentur am Samstag. „Wir sind ihnen sehr, sehr dankbar. Vielleicht haben sie ihm das Leben gerettet.“
Der frühere Weltranglistenerste war am Mittwochabend im Athletendorf in Tokio zusammengebrochen und in die Notaufnahme gebracht worden. „Es geht ihm gut“, sagte der Sprecher am Samstag. „Er wird aber noch einige Tage im Krankenhaus bleiben müssen.“ Eine genaue Diagnose gebe es noch nicht. Man habe sich aber auch entschieden, Details dazu nicht öffentlich zu machen.
Die deutsche Delegation ist im Athletendorf im selben Haus untergebracht wie die belgische. Friedhelm Julius Beucher, der Präsident des Deutschen Behindertensportverbandes, sagte: „Anja Hirschmüller und Stefan Sevenich haben womöglich ein Menschenleben gerettet. Das ist mehr wert als jede Medaille. Ich werde heute Abend ins Dorf fahren, Anja den Sekt der Belgier mitbringen und sie trotz Corona in den Arm nehmen.“
Müller und Ave holen Gold
Es war vielleicht der größte deutsche Gänsehaut-Moment bei den Paralympics in Tokio: Als Edina Müller noch im Boot einen Sieger-Kuss von ihrem Sohn Liam bekam, waren all die Mühen und all der Ärger der vergangenen Monate nichtig. „Da war alles andere vergessen“, sagte die Hamburgerin, die neun Jahre nach Gold im Rollstuhlbasketball diesmal mit dem Kanu triumphierte.

Edina Müller wird nach ihrem Sieg von ihrem zweijährigen Sohn Liam geküsst. (Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa)
Monatelang hatte die 38-Jährige dafür kämpfen müssen, den Zweijährigen als stillende Mutter überhaupt mit nach Japan nehmen zu dürfen. Weil er keine Akkreditierung für das Dorf bekam, wohnte Müller mit ihm und ihrem Partner im Hotel, musste dauernd pendeln. Doch zum Finale am Samstag war der Sohn an der Strecke, jubelte beim Zieleinlauf auf den Schultern von Vater Niko.
Für ein deutsches Highlight sorgte am Abend auch Lindy Ave. Die 23-Jährige, die Cerebralparese hat, siegte über 400 Meter im strömenden Regen mit Weltrekord-Zeit von genau 1:00,00 Minute. „Regenwetter ist man gewohnt, wenn man an der Ostsee wohnt“, sagte die Greifswalderin lachend: „Ich hätte nie im Leben gedacht, dass ich Weltrekord laufen kann. Erst recht nicht bei den Paralympics.“ In der Vorbereitung hatte sie noch erwogen, auf die Stadionrunde zu verzichten.
„In drei Jahren in Paris steht Liam wahrscheinlich mit einer Fahne neben mir und wir werden seiner Mutter gemeinsam zujubeln“,
sagte Friedhelm Julius Beucher, der Präsident des Deutschen Behindertensportverbandes. Müller sei „eine Ausnahmesportlerin mit einer ungeheuren Disziplin“, lobte er: „Die Sportart wechseln und Gold holen, das können nur Ausnahmeathleten.“ Zuvor war es Annika Zeyen, Müllers Teamkollegin 2012, mit dem Handbike gelungen.
Die besonderen Umstände um ihren Sohn machen Müllers Triumph noch außergewöhnlicher. „Edina steckt alles Äußere weg“, sagte Beucher. Dass das Kind und der Partner in Japan dabei sind, sei für ihn „selbstverständlich. Aber wenn irgendetwas anders ist, müssen die Leute erst lernen, mit der Situation umzugehen. Doch Edina hat sich hier genauso beharrlich durchgesetzt wie sie es im Sport tut. Und hat es zu einem wunderbaren Ende geführt.“ Das fand auch ihr Heimtrainer Arne Bandholz, der nach dem Triumph ins Wasser sprang. „Das musste einfach sein. Aber es war schön warm“, sagte er durchnässt.
„Es hätte alles besser laufen können“, sagte Müller über die Abläufe: „Aber das Wichtigste ist, dass wir zusammen ist und ich die Goldmedaille in der Hand habe.“ Doch die organisatorischen Probleme endeten mit dem Triumph nicht. Während Teamkollegin Felicia Laberer nach ihrem Bronze-Lauf ankündigte, „dass es heute ordentlich abgehen“ werde (die 20 Jahre alte Berlinerin kam am Samstag auf dem Sea Forest Waterway in 51,868 Sekunden ins Ziel und holte damit bei ihren ersten Paralympics eine Medaille. Laberer stieß bei der Zieldurchfahrt ein lautes „Yes“ heraus), empfand es Müller als „ein bisschen schwierig. Der Kleine darf ja nicht ins Dorf. Da müssen wir irgendeinen Ort finden, an dem wir alle zusammenkommen können.“
Dennoch habe sie „am Ende das Gefühl, doch alles richtig gemacht zu haben“, sagte Müller: „Es gab Zweifler und einige, die nicht an mich und uns geglaubt haben. Jetzt mit der Goldmedaille dazustehen, ist der Wahnsinn.“ Die letzte Krönung blieb aber aus. „Darauf hätte ich Bock“, antwortete Müller auf die Frage, ob sie gerne Fahnenträgerin bei der Schlussfeier sein würde. Die Entscheidung hatte der Verband allerdings schon zuvor für Natascha Hiltrop (Lengers) getroffen. Die 29-Jährige hatte das erste Gold für die Sportschützen seit Athen 2004 geholt, dazu noch Silber, am Sonntag könnte sie nochmal Gold holen.
Streng mit Silber, aber enttäuscht

Mit Schmerzen: Felix Streng (Foto: Marcus Brandt/dpa)
Felix Streng hat bei den Paralympics in Tokio seine zweite Gold-Medaille verpasst und Silber geholt. Der einseitig unterschenkelamputierte Sprinter wurde nach einer Verletzung beim Aufwärmen fünf Tage nach seinem Sieg über 100 Meter über 200 Meter Zweiter. Mit 21,78 Sekunden hatte der 26-Jährige, der neuerdings in London trainiert und für Wetzlar startet, 25 Hundertstelsekunden Rückstand auf Sherman Isidro Guity Guity aus Costa Rica.
„Ich bin sprachlos und geschockt. Mir hat es beim Aufwärmen voll in einen Adduktor gezogen. Ich konnte mir im Callroom nicht mal die Schuhe anziehen“,
sagte Streng. Dass er überhaupt lief, sei wohl „dem Adrenalin geschuldet. Dennoch ist es eine Enttäuschung. Es wäre so viel mehr drin gewesen. Nach dem Vorlauf habe ich gedacht, ich kann richtig fliegen und ein echtes Statement setzen. Aber es sollte wohl nicht so sein.“
Ohne Medaille: Deutsche Rollstuhl-Basketballerinnen nur Vierte
Deutschland hat in den Mannschafts-Sportarten bei den Paralympics wie auch zuvor bei den Olympischen Spielen keine Medaille gewinnen können. Die Rollstuhl-Basketballerinnen unterlagen bei den Paralympics in Tokio im Spiel um den dritten Platz am Samstag den USA mit 51:64 und blieben damit erstmals seit den Spielen in Athen 2004 ohne Edelmetall.
Die deutsche Mannschaft lag von Beginn an in Rückstand. Mit 13:20 ging das erste Viertel an die US-Girls, die diesen Vorsprung nicht mehr hergaben. Im Schlussdurchgang bauten sie ihn sogar noch deutlich aus. Beste Werferin war Fahnenträgerin Mareike Miller, die mit 26 Punkten überzeugen konnte.
Kugelstoßen: Auch Rio-Sieger Scheil ohne Medaille
Daniel Scheil ist fünf Jahre nach seinem Triumph bei den Paralympics in Rio diesmal ohne Medaille geblieben. Am Samstag kam der 48 Jahre alte Erfurter im Kugelstoßen der sitzenden Klasse nur auf Rang fünf. Mit 9,86 Metern fehlten Scheil 1,39 Meter zu Bronze.
Focken in der Quali gescheitert

Tim Focken wurde bei seinem Afghanistan-Einsatz von den Taliban aus einem Hinterhalt angeschossen. (Foto: Martin Bargiel/Behinderten Sportverband Niedersachsen BSN/dpa)
Derweil ist ihr Teamkollege Tim Focken (siehe auch ROLLINGPLANET-Bericht: Paralympics-Debüt mit Trauma) in der Qualifikation gescheitert. Der Afghanistan-Veteran, der als erster deutscher kriegsversehrter Bundeswehrsoldat an den Paralympics teilnahm, kam mit dem freien Gewehr über 50 Meter am Samstag in der Qualifikation auf Rang 14. Focken war grippegeschwächt in den Wettkampf gegangen. Auch Moritz Möbius schaffte den Sprung ins Finale nicht. Er kam auf Rang elf.
(RP/Holger Schmidt und Tobias Brinkmann, dpa)

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