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Gesellschaft & Politik

Missstände gilt es anzusprechen, nicht darüber zu jammern!

Gut gemeint, aber schlecht gemacht: Beim Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz kochen die Gemüter hoch. Warum es der falsche Weg ist, Mitleid zu erzeugen. Ein Kommentar von ROLLINGPLANET-Autor Marcel Renz

Marcel Renz
Marcel Renz lebt mit Muskeldystrophie Duchenne und arbeitet als Journalist und Blogger. (Foto: privat)
Unsere Kolumnisten schreiben unabhängig von ROLLINGPLANET. Ihre Meinung kann, muss aber nicht die der Redaktion sein.

Mal wieder ist ein Jahr vergangen und behindertenpolitisch liegt in unserem Land immer noch einiges im Argen. Unsereins könnte sich aufregen, vor allem über Gesetze, die Missstände ausräumen sollen, aber gefühlt eher das Gegenteil bewirken. Wie die fehlende umfangreiche Verpflichtung zur Barrierefreiheit in der Privatwirtschaft. Daran ändert auch das im Mai dieses Jahres verabschiedete Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) nichts.

Besonders oft im Fokus war und ist in den letzten Monaten der Gesetzgebungsprozess rund um das Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz (GKV-IPReG), das zwar hehre Ziele verfolgt, Menschen wie mich, die auf Beatmungspflege und Hochtechnologie angewiesen sind, allerdings mit Zukunftssorgen zurücklässt. Eine Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts, wo die Pflege zukünftig stattfindet, und eine Zunahme bürokratischer Hürden sind zu befürchten.

Behindertenpolitische Gesetzgebung in Deutschland – gut gemeint, aber schlecht gemacht

Außerdem gab es noch eine Gesetzesvorlage, die mich aus privaten Gründen sehr stark beschäftigt hat, nämlich die Gesetzgebung zur Assistenz im Krankenhaus. Zusammen mit anderen Menschen, die einen hohen spezifischen Assistenzbedarf haben, habe ich mich für ein gesetzlich festgeschriebenes Recht auf Assistenz im Krankenhaus eingesetzt. Dies wurde leider sehr enttäuscht.

Bislang war die Situation so, dass lediglich AssistenznehmerInnen, die ihre Assistenz über das Arbeitgebermodell sicherstellen und selbst Arbeitgeber sind, ihre Assistenzleistung während eines Krankenhausaufenthaltes weiter erhalten. Für AssistenznehmerInnen, die wie ich über einen ambulanten Pflegedienst ihre Assistenz in Anspruch nehmen, gilt das nicht – obwohl wir darauf genauso angewiesen sind. Diese Gesetzeslage wurde nun verbessert, zum Beispiel bekommen Begleitpersonen, die mit aufgenommen werden, unter gewissen Umständen die Lohnkosten erstattet und Menschen, die Eingliederungshilfe bekommen, haben ebenfalls unter gewissen Umständen das Recht auf Bezahlung der Assistenz. Außerklinisch bzw. ambulant versorgte Menschen sind aber leider immer noch außen vor.

Auch hier lässt sich wieder das gängige Muster der letzten Jahre erkennen: gut gemeint, aber schlecht gemacht… Ein, zwei schöne Verbesserungen, die zeigen sollen, man habe doch nun wirklich guten Willen gezeigt und Geld in die Hand genommen. In Wirklichkeit lediglich für einen kleinen Teil der Betroffenen hilfreich. Das ist für mich an Willkür und Ungerechtigkeit nicht zu überbieten.

Kampf ums Überleben öffnet Augen

Aber Aufgeben ist ein schlechter Berater, denn eine gescheite Regelung kann lebensnotwendig sein. Ich erinnere mich nur zu gut an den November 2019, als ich mich viel zu spät mit einer schweren Lungenentzündung in die Klinik einliefern habe lassen. Die Folge war, dass ich ums Überleben kämpfen musste. Wieso hatte ich es so weit kommen lassen? Einer die Hauptgründe war, dass nicht gesichert war, ob ich meine Assistenz würde mitnehmen können.

Bei meiner Erkrankung Muskeldystrophie Duchenne kommt es in erster Linie nicht auf Fachwissen, sondern auf monate- und jahrelange Erfahrung und Automatisierung von Abläufen an. Die meisten AssistentInnen kennen mich besser als manch FreundIn oder Familienmitglied. Da entsteht Vertrauen, das in körperlichen und psychischen Grenzsituationen absolut unverzichtbar ist. Wenn ich dann aus einer perfekt organisierten Umgebung in eine fremde, noch unorganisierte Umgebung komme, habe ich erst mal ein Problem, es sei denn, meine wichtigsten Assistenz- und Vertrauenspersonen sind mit dabei.

Ich konnte letztendlich dank einer Einzelfallentscheidung zwar für eine gewisse Zeit am Tag meine Assistenz in Anspruch nehmen, aber dafür waren zu viel unmenschliche Hürden zu überspringen, unter anderem einige nervenaufreibende Gespräche mit dem Kostenträger seitens meiner Familie. Und ganz nebenbei: viele Menschen mit Behinderung haben keine Familie oder Freunde, die im Ernstfall einfach da sind.

Bange machen gilt nicht!

Wir Menschen mit Behinderung könnten also vielfach jammern und in der Presse Mitleid hervorrufende Artikel am Fließband produzieren lassen, aber das wäre gerade jetzt absolut der falsche Weg. Von den beschriebenen Gesetzen betroffene Menschen mit Behinderung und ihre Vertretungen müssen gerade jetzt im Zuge des neuen Koalitionsvertrages die Chance ergreifen und entschieden auf die politischen Entscheidungsträger zugehen. Egal, um den wievielten Anlauf es sich bereits handelt – die einzige Option ist weiterzumachen ohne „Wenn und Aber“. Irgendwann bleiben wir in den Köpfen von Gesellschaft und Politik hängen. Bestes Beispiel sind alle Aktivitäten rund um das IPReG. Hier setzen sich regelmäßig Menschen zusammen, die darüber nachdenken, wie man sich Gehör verschafft und welche genauen Forderungen es zur Ausgestaltung des Gesetzes gibt.

So wie es Ottmar Miles-Paul, der die Selbstbestimmt Leben-Bewegung wie kein Zweiter geprägt und schon einige finanzpolitische Aktionen koordiniert hat, kürzlich im MAIK-Onlinetalk mit dem Titel „Assistenz im Krankenhaus – eine Mogelpackung? Viele Betroffene fühlen sich weiterhin allein gelassen“ treffend formulierte: Das Wichtigste sei es, dass die PolitikerInnen ein konkretes Bild von den realen Alltagsproblemen in den Kopf bekommen. Manchmal müsste ein Bedürfnis einfach mit drastischen Worten beschreiben werden, zum Beispiel was es heißt, ohne Assistenz ins Krankenhaus zu müssen.

Nicht am Negativen festhalten, sondern auf das Positive blicken

Zum Glück gibt es auch Lichtblicke und die positiven Entwicklungen. Wir sollten uns zwar nicht alles schönreden, aber nur auf das Negative zu schauen, wäre entmutigend und würde uns aller Energie berauben. Nehmen wir das Sozialamt, wo ich mich meistens nur wie eine Nummer gefühlt habe. Das inzwischen immer öfter angewendete Teilhabeplanverfahren rückt den individuellen Bedarf der Betroffenen viel mehr in den Fokus. Ich wurde inzwischen sogar schon besucht, um meine Situation besser einzuschätzen. Natürlich sind die Verfahren immer noch viel zu bürokratisch, aber bei vielen SachbearbeiterInnen und deren Vorgesetzten wandelt sich das Bild ganz langsam. Ich habe unlängst nach dem Hinweis auf meinen Blog sogar einen Anruf vom Kundencenter meiner Krankenkasse bekommen, weil sie es toll finden, dass ich die von der Krankenkasse genehmigten Hilfsmittel für meine Selbstbestimmung nutzen kann.

Gewonnen ist damit freilich noch lange nichts, und es brauchte in der gerade beschriebenen Situation auch sehr viel Geduld und Zähigkeit, um an die richtigen Personen und Entscheidungsträger zu gelangen. Aber es sind viele kleine positive Beispiele, die zeigen, dass immer mehr Menschen in Gesellschaft, Verwaltung und Politik begreifen, wie wichtig Inklusion ist, und wie diese gelebt werden kann. Dazu gehören natürlich auch Gesetzesvorhaben. Mal sehen, wie viel Zukunftsvision in vier Jahren übriggeblieben sein wird.

Der E-Rollstuhl-Fahrer Marcel Renz lebt mit Muskeldystrophie Duchenne und Beatmung. Er arbeitet als freier Autor und Journalist und schreibt für verschiedene Online- und Printpublikationen im Bereich Inklusion. Er hält Vorträge und Webinare über die Erfahrungen mit seiner Behinderung und ist als Blogger auf Marcel gibt Gas aktiv.
Zum besseren Verständnis
Das BFSG setzt den European Accessibility Act (EAA), der schon 2019 in der EU in Kraft trat, in deutsches Recht um. Der EAA ist eine europäische Richtlinie, durch die der barrierefreie Zugang zu allen Bereichen des Lebens ermöglicht werden soll, zum Beispiel Bankdienstleistungen oder Barrierefreiheit im elektronischen Geschäftsverkehr. Für die hiesigen Fachverbände wie den Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband ist der BFSG eine mutlose Minimalumsetzung der europäischen Vorgaben. Ihnen geht die Umsetzung nicht weit genug und sie ermögliche zu viel Ausnahmen.

(RP)

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ROLLINGPLANET ist seit 2012 Deutschlands Onlinemagazin für Menschen mit Behinderung und alle anderen. ROLLINGPLANET ist ein Non-Profit-Projekt, realisiert vom Verein Menschen, Medien und Inklusion e.V., München. Mehr über unser Team erfahren Sie hier.

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