Hier geht es zu Teil 1: Mein erster Rollstuhl
Hier geht es zu Teil 2: Von der Hierarchie der Rollstuhlfahrer
Dass es auch ohne Rollstuhl geht, hat mich eine eindrückliche Begegnung in Pondicherry gelehrt. Ich hatte die Gelegenheit, anlässlich einer Reise nach Südindien in jener Stadt an der Ostküste einen Aktivisten der Behinderten-Selbsthilfebewegung zu treffen. Dieser hatte wie ich Polio, besaß jedoch keinen Rollstuhl. Vielmehr brachte ihn ein Freund auf dem Motorrad zu unserem Treffen. Auf allen Vieren kam er ins „Le Café“ in Pondi, die Beine eher nachschleifend, denn als Hilfe benutzend. Er war sehr beweglich und viel selbständiger, als wenn er im Rollstuhl gesessen wäre. Denn es gab einige Stufen, die ich selbst nur mit fremder Hilfe hatte überwinden können. In einem schnellen, mir schlecht verständlichen Englisch erzählte er von seinen Projekten, die grundsätzlich auf Selbsthilfe angelegt waren. Auf meine Fragen antwortete er unmittelbar und mit einem freundlichen Lächeln. Gleichzeitig gestikulierte er lebhaft mit seinen erstaunlich feingliedrigen Händen, waren sie doch zugleich sein wichtigstes Fortbewegungsmittel, wie bei den Fußgängern die Füße. Er musste sehr intelligent sein und hatte eine wunderbare Ausstrahlung. Auch wenn er auf allen Vieren daherkam, hatte ich nicht das Empfinden, dass damit seine Würde beeinträchtigt war.
Inzwischen bin ich mit meinen Rollis weniger experimentierfreudig als auch schon. Ich bin konservativer geworden – weil mein Körper sich nicht mehr auf die Äste hinauswagen mag. So sind etwa die Transfers, das Hinüberwechseln vom Rollstuhl aufs Bett oder in die Badewanne – und dann auch wieder zurück –, schwieriger, ja gar etwas heikel geworden. Unter gewohnten Umständen funktionieren sie tadellos. Gibt es neue Umstände – und dazu kann ein neues Rollstuhlmodell gehören –, so ist es ungewiss, ob ich noch aus der Badewanne komme. Nicht zuletzt deshalb fahre ich seit bald zwanzig Jahren dasselbe Rollstuhlmodell, das sich bewährt hat. Das hat zudem den Vorteil, dass ich inzwischen ein weitgehend identisches Reservemodell im Keller habe. Wenn ich heute einen Plattfuss habe – pardon: mein Rollstuhl einen Plattfuss hat –, so kann ich mit einfachen Handgriffen das Rad meines Ersatzrollstuhls montieren – sofern dieses nicht vom letzten Mal noch einen Plattfuss hat… Ein Reservestuhl ist also äußerst hilfreich, grad wenn man alleine lebt. Auch diesen musste ich mir von der IV erkämpfen, denn die offizielle Sprachregelung lautet so, dass man die Rollstühle, die durch die Invalidenversicherung finanziert werden, nicht besitzt, sondern leihweise bekommt und demzufolge wieder zurückgeben muss, wenn man einen neuen Rollstuhl erhält. Will man den alten Stuhl behalten, so muss man gute Gründe vorweisen. Ohne Ersatzrollstuhl im Notfall völlig blockiert zu sein, ist ein solcher Grund – sofern man denn selbständig lebt und einem Erwerb nachgeht. Ist das nicht gegeben, wirds schon schwieriger. Es ist also ein aufwendiges und längeres Verfahren, bis ein solcher zweiter Stuhl bewilligt wird.
Ich komme – endlich – zum Schluss meiner Ausführungen. Eine Kulturgeschichte des Rollstuhls muss noch geschrieben werden. Mir hat es nur zu ein paar Episoden aus meinen Erfahrungen gereicht. Auch wenn ich froh bin, dass es heute Rollstühle mit allen möglichen und unmöglichen Finessen gibt, sehne ich mich manchmal doch zurück nach der Leichtigkeit des Seins auf dem Rollbrett entlang der Korridore im Kinderspital. Doch vielleicht ist das bloße Nostalgie eines in die Jahre gekommenen Rollifahrers. (Ende)
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Hier geht es zu Teil 2: Von der Hierarchie der Rollstuhlfahrer
Der Autor wurde 1956 in Basel geboren. Zwei Jahre später erkrankte er an Kinderlähmung und ist seither Rollifahrer. Zwar im Heim aufgewachsen, aber trotzdem kein Heimkind. Zwar ein Mensch mit Körperbehinderung, aber trotzdem nicht behinderter als die anderen auch. Walter B. veröffentlicht regelmäßig auf ROLLINGPLANET. Seine Artikel finden Sie auch auf seinem Blog WALTER BS TEXTEREIEN

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