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Literatur und Corona: Stoffsuche in Zeiten von Spuckschutzscheiben

Seit Frühjahr 2020 fühlen sich viele Menschen selbst wie in einem Roman – dessen Ende noch offen ist. Autoren verarbeiten die Pandemie schreibend, doch wird die Thematik Bestand haben?

Die Corona-Pandemie macht auch vor der Literatur keinen Halt: Der Eingang zur Landes- und Zentralbibliothek Berlin, die nur mit FFP2-Maske betreten werden darf.
Die Corona-Pandemie macht auch vor der Literatur keinen Halt: Der Eingang zur Landes- und Zentralbibliothek Berlin, die nur mit FFP2-Maske betreten werden darf. (Foto: Paul Zinken/dpa)

Die Corona-Zeit verändert auch die deutschsprachige Literatur. Schriftstellerinnen und Schriftstellern bieten diese Monate der Unsicherheit und des Wandels viel Stoff – manchmal können sie gar nicht anders, als ihre Figuren auch mit der Pandemie zu konfrontieren. Längst sind erste Corona-Romane erschienen, Verlage registrieren Veränderungen bei eingereichten Manuskripten – manche bemerken gleichzeitig bei den Leserinnen und Lesern einen Trend hin zu eskapistischer Lektüre.

„Literatur ist ja immer auch eine Möglichkeit, sich mit der Welt, wie sie so ist, auseinanderzusetzen und da unsere Welt jetzt schon viele Monate so virusbestimmt ist, bahnt sich die Pandemie mehr oder weniger direkt ihre Wege in die verschiedenen Texte“,

sagt die Verlagsleiterin Belletristik bei Ullstein, Diana Stübs. Sie beobachtet dabei zwei Ausprägungen: „Zum einen Manuskripte, die sich vor der Gegenwart zurückziehen, also zum Beispiel historische Stoffe zum Gegenstand haben oder sich nach Innen wenden. Und jene, die eine Welt herbeifabulieren, wie sie einmal wird. Vielleicht.“

Manche Verlage hätten das Glück gehabt, einen passenden Titel im Repertoire zu haben, sagt der Programmleiter Rowohlt Hundert Augen, Marcus Gärtner. Für Rowohlt sei „Die Pest“ von Albert Camus zum unerwarteten Bestseller über Monate hinweg geworden.

Corona wird Teil der Geschichte

Autorin Juli Zeh sagt in einem Interview des Luchterhand Verlags, sie habe die erste Fassung ihres aktuellen Buches „Über Menschen“ schon geschrieben gehabt, als sich die Pandemie ausgebreitet habe.

„Für mich war es ausgeschlossen, an dem Text weiterzuarbeiten, ohne darauf zu reagieren. Deshalb habe ich den Roman ein zweites Mal von Neuem geschrieben und die aktuellen Ereignisse mit einfließen lassen.“

Es sei zwar einerseits ein Wagnis gewesen, so nah an den täglichen Entwicklungen zu schreiben. Gleichzeitig sah sie es als Möglichkeit, „Dinge zu verarbeiten, die für uns alle schwer und belastend sind“.

Zeh lässt ihre Figur Dora während der Corona-Pandemie von der Stadt aufs Land flüchten. Wenn Dora wegen der vielen neuen Begriffe wie Social Distancing, exponentielles Wachstum, Übersterblichkeit und Spuckschutzscheibe der Kopf schwirrt, dann wissen die Leserinnen und Leser, wie es ihr geht. Sie kennen das Staunen, die Irritation, die Sorge, das Unbehagen, die Überforderung – und werden so automatisch selbst zum Teil der Geschichte.

Die Autorin Juli Zeh schrieb ihr Buch nach Aufkommen der Pandemie komplett neu.

Die Autorin Juli Zeh schrieb ihr Buch nach Aufkommen der Pandemie komplett neu. (Foto: Soeren Stache/dpa)

Auch Lektorin Silvia Zanovello vom Diogenes Verlag sieht bei den Autorinnen und Autoren das Bedürfnis, die Pandemie inhaltlich zu verarbeiten. „Es wird wohl noch lange ein Thema bleiben. Viele Autoren sprechen aber von einer längerfristigen Verarbeitung des Themas. Viele auch davon, dass es eine gewisse Distanz braucht, um die Wirkung auf die Gesellschaft überhaupt künstlerisch erfassen zu können.“ Die Menschen greifen in der Corona-Zeit allerdings auch sehr gern zu thematisch anderer Lektüre. „Das Thema Pandemie ist im Moment wohl nicht so gesucht in der Belletristik“, heißt es von der Diogenes-Lektorin. Programmleiter Gärtner (Rowohlt Hundert Augen) sieht bei der Leserschaft einen Boom eskapistischer Lektüren und Versenkung in zeitlose Themen.

Keine ultimative Lösung

Ein Beispiel aktueller Corona-Literatur ist Thea Dorns Erzählung „Trost. Briefe an Max“ (Penguin Verlag), in der sich die Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit vieler Menschen widerspiegelt. Ihre Figur Johanna verliert in den Anfängen der Pandemie ihre lebensfrohe, unvernünftig handelnde Mutter an das Virus. Nach einer trostlosen Beerdigung unter Auflagen der Behörden feiert sie dann selbst ohne Rücksicht auf Verluste – teils aus Verzweiflung, teils aus kindlich anmutendem Trotz. Der harte Kern der Gäste liegt sich am Ende volltrunken und singend auf einem Balkon in den Armen. Hinterher spricht Johanna in einem Brief an ihren alten philosophischen Lehrer Max von Selbstbetrug und Betäubung.

Das reizvolle Gefühl, brandaktuelle Dokumente der Zeitgeschichte vor sich zu haben, geht einher mit einer gewissen Unzufriedenheit: Man steckt als Leserin oder Leser selbst noch mittendrin in den Problemen der Figuren – und ahnt beim Lesen: Weder Juli Zeh noch Thea Dorn haben eine befriedigende Lösung auf dem Tisch. Ihre Figuren irren genauso planlos durch die Pandemiewelt wie die Leserschaft, in Mechanismen der Verdrängung, des Annehmens oder der scheinbaren Gleichgültigkeit – allen gemeinsam ist aber ein großes Fragezeichen.

Welche Spuren die Corona-Zeit langfristig in der deutschsprachigen Literatur hinterlässt, wird sich zeigen. Stübs vom Ullstein-Verlag sagt: „Es fällt mir sehr schwer, einzuschätzen, ob diese Pandemie so prägend sein wird wie zum Beispiel die Wende oder ob sie, wenn das, was wir „Normalität“ nennen, irgendwann wieder Einzug gehalten haben wird, schnell vergessen sein wird.“ Sie gehe aber davon aus, dass einige Verhaltensweisen wie notorisches Abstandhalten noch sehr lange bleiben werden – „und damit auch in Texte einwandern.“

(RP/dpa)

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