Nina ist 33 Jahre alt, als sich nach einem Krankenhausaufenthalt ihr Leben für immer verändert. Die zweifache Mutter erleidet eine lebensbedrohliche Sepsis, die zu spät erkannt wird und ihren Körper nachhaltig schädigt. Im Interview mit ROLLINGPLANET spricht sie über den Kampf um Schadensersatz, woher sie ihren Lebensmut nimmt und wie ihre Familie sie nach dem Schicksalsschlag unterstützt.
„Bürokratie ging auch im Notfall anscheinend vor“
Im Juni 2013 wurden Sie wegen Nierensteinen ins Krankenhaus Gehrden bei Hannover eingeliefert. Danach veränderte sich schlagartig Ihr Leben. Was ist passiert?
Mein Mann und ich waren auf einer Feier bei meinen Schwiegereltern in der Nähe von Hannover eingeladen, als ich plötzlich starke Schmerzen im Unterbauch bekam, die sich bis zu meinem Rücken zogen. Dann wurden die Schmerzen so extrem, dass wir in das nächstgelegene Krankenhaus in Gehrden gefahren sind. Inzwischen konnte ich nicht mal mehr laufen, so schlimm waren die Schmerzen. Dagegen waren selbst die Geburten meiner Kinder weniger schmerzhaft. Also hat mein Mann einen Rollstuhl für mich geholt, und obwohl ich definitiv ein Notfall war, dauerte es ewig, bis ich drankam, weil es offensichtlich Probleme wegen der Adresse auf meiner Versichertenkarte gab. Die Bürokratie ging hier anscheinend auch im Notfall vor.
Hatten Sie schon früher gesundheitliche Beschwerden?
Gar nicht. Ich war kerngesund. Ich habe auch nie zuvor Antibiotika genommen. Das Schlimmste, was ich je hatte, war in meiner Kindheit, als mir mein Bruder eine Schüppe ins Bein gehauen hatte und ich genäht werden musste. Ernsthaft krank war ich vorher nie.
Wie ging es im Krankenhaus weiter?
Ich musste in einem Behandlungsraum warten, und als endlich die Ärztin erschien, war ich bereits am Zittern und habe mich permanent übergeben. Also hat die Ärztin Blut abgenommen. Zu dem Zeitpunkt war es 2 Uhr morgens. Bis es weiterging und ich auf die Station kam, war es bereits 6 Uhr, Sonntagmorgen. Meinen Mann habe ich deshalb zurück zu unseren Kindern ins Hotel geschickt, weil ich dachte, jetzt passiert endlich was. Und dann bin ich auf die Station gekommen, und es passierte nichts mehr.
Mir ging es mittlerweile immer schlechter, der Vormittag verging, es wurde Nachmittag, bis meine Eltern kamen, und meine Mutter darauf bestand, dass endlich ein Arzt kommt. Doch als dieser nach einer Weile kam, meinte er nur, meine Schmerzen seien bei einem Nierenstein, den er vermutete, völlig normal. Meine Mutter, die lange Arzthelferin war, sich also ein bisschen auskennt, legte ihm nahe, dringend ein CT zu machen, um eine konkrete Diagnose zu stellen. Doch der Arzt wimmelte sie nur mit den Worten ab, dass ein CT am Wochenende nicht verfügbar sei – „nur für echte Notfälle.“ Daraufhin verließ er wieder den Raum.
Unglaublich! Was geschah daraufhin?
Ich war inzwischen wie weggetreten, auch nicht mehr ansprechbar und habe einfach nur ständig neue Schmerzmittel bekommen.
„Erst am Montagmorgen kam ein kompetenter Arzt“
Ansonsten gab es keine Untersuchung?
Ich kann mich nur noch dunkel daran erinnern, habe es später auch anhand der Unterlagen vor Gericht erfahren, dass des Nachts nochmal eine Ärztin bei mir war, die einen Ultraschall am Bett gemacht hat und sagte, dass sie nichts sehen könne, aber einen Nierenstein vermute. Blut wurde mir nicht nochmal abgenommen, was bei einer Sepsis sicher aufschlussreich gewesen wäre. Im Nachhinein stellte sich heraus: Der Nierenstein war so tief gerutscht, dass es sich bei mir bereits um einen Nierenverschluss handelte. Inzwischen weiß ich auch, dass eine Frau bei einem Nierenverschluss sofort an eine Harnleiterschiene (Ureterschiene) gelegt werden muss, damit der Urin abfließen kann. Bei mir hat sich alles immer mehr gestaut. Erst am Montagmorgen kam ein kompetenter Arzt zu mir, woraufhin ich kurz darauf im OP landete. Ab dem Moment habe ich auch nichts mehr mitbekommen, auch nicht, dass ich kurze Zeit später in die MHH (Medizinische Hochschule Hannover) gebracht wurde.
Aus späteren Erzählungen weiß ich, dass meine Familie daraufhin ins Krankenhaus gekommen ist und meiner Schwester mitgeteilt wurde, dass ich um mein Leben kämpfe. Aus dem Grund, weil meine Lunge inzwischen komplett zusammengebrochen war, was deshalb passiert ist, weil eine Ureterschiene gelegt wurde, ohne vorher erkannt zu haben, dass sich die Sepsis bereits stark auswirkte. Noch dazu wurde mir ein Kontrastmittel gespritzt, was sich besonders schädlich auswirkte, weil dieses Mittel dafür sorgte, dass innerhalb von Sekunden die ganzen Bakterien, die sich hinter dem Nierenstein angesammelt hatten, in meinen ganzen Körper eingeschwemmt wurden und so in die Blutbahn gerieten.
Wie ging es weiter?
Nachdem meine Lunge komplett in sich zusammengefallen ist, ich auch nicht mehr zu beatmen war, wurde die MHH zur Hilfe gerufen, weil ich an die Ecmo angeschlossen werden musste. Die Ecmo – eine künstliche Lunge, mit der Patienten mit akutem Lungenversagen künstlich beatmet werden – kennt man inzwischen auch durch die akuten Coronafälle. Normalerweise braucht man 20 Minuten für die Fahrt von Gehrden zur MHH – bei uns dauerte sie vier Stunden, weil die Ecmo keinerlei Erschütterung ausgesetzt werden darf. Dort wurde mir im Endeffekt mein Leben gerettet.
Ein Arzt berichtete später, so eine schlimme Sepsis hätte noch niemand überlebt.
Genau. Es gibt zwar schwere Verläufe und sehr viele Todesfälle durch eine Sepsis, die aber im Krankenhaus häufig nicht als Todesursache erkannt bzw. bekannt gemacht wird. Es müsste also viel mehr über die ersten Anzeichen einer Sepsis aufgeklärt werden. So könnte sicher viel Schlimmes verhindert werden. Viele Ärzte schicken ihre Patienten auch bei den ersten Entzündungserscheinungen mit den Worten nach Hause, dass es sich hier nur um eine leichte Grippe handele. Aber auch leichte Warnzeichen dürfen nicht unterschätzt werden, und die Ärzte müssen unbedingt viel aufmerksamer werden!
„Ich quoll zu einer 300-Kilogramm-Frau auf“
Wie entwickelte sich Ihr Zustand?
Ich war zehn Tage im Koma, und während dieser Zeit wurde ganz viel Wasser in mich hineingepumpt, weil ich zuvor jegliches Antibiotikum verabreicht bekommen hatte und mein Körper davon wiederum in eine Vergiftung gekommen ist, und diese durch das Wasser ausgeschwemmt werden sollte. Durch das viele Wasser quoll ich quasi zu einer 300-Kilogramm Frau auf – die Augen komplett zugeschwollen, die Lippen riesengroß. Meine Familie meinte später, man konnte mich gar nicht mehr erkennen.
Deshalb wurde mein Kopf in die CT-Röhre geschoben, um festzustellen, ob der Wasserdruck bereits mein Gehirn zerquetscht und mein Kopf überhaupt noch Funktionen hatte. Demzufolge gab’s dann auch dieses schlimme Missverständnis, dass meine Schwester meinen Bruder am Telefon hatte und unter Tränen gesagt hat: ‚Wenn es bei der Untersuchung kein positives Ergebnis mehr gibt, werden die Geräte abgeschaltet.‘
Während er verstand, die Geräte seien bereits abgeschaltet worden und glaubte, ich sei tot. Was meine Familie, insbesondere er, dabei durchlitten hat, war auch für mich ganz schlimm.
Gott sei Dank sind Sie wieder im „normalen“ Leben angekommen, waren aber die ersten anderthalb Jahre nach dem Krankenhaus noch auf den Rollstuhl angewiesen, richtig?
Ja, das war eine heftige Zeit. Deswegen habe ich auch regelmäßig versucht, wieder ins Stehen oder in die Knie zu kommen, bin sogar zwischendurch ein paar Schritte gegangen.

Nina (l.) hat aufgrund der Sepsis bis auf die Daumen alle Finger verloren. Schwester Nele hilft beim Anbringen der Hand-Prothese. (Foto: ZDF/Eduard Heizmann)
„Leute guckten entsetzt auf meine schwarzen Finger“
Wann kam es dann zu der Amputation Ihrer Finger und Zehen?
Erst im Oktober. Ich war bereits aus dem Krankenhaus entlassen worden, hatte auch eine Komplett-Pflege, und ich musste meine Familie selbst noch beruhigen, dass das alles funktionieren würde. Zu dem Zeitpunkt war ich aber noch zu schwach für die Amputations-OP. Deshalb wurde sie auf Anfang Oktober verschoben. Dabei wurde alles, sowohl Finger als auch Zehen, amputiert.
Heftig! Welche Emotionen hatten Sie davor?
Ich habe mir davor tatsächlich gewünscht, dass die OP nun endlich passiert. Denn ich konnte auch nichts mehr mit den Händen greifen, die Sehnen waren verkürzt, und die Leute guckten nur noch entsetzt auf meine schwarzen Finger. Diese Blicke waren furchtbar. Meine Mutter hat mir dann noch extra spezielle Handschuhe genäht.
Warum sind Ihre Gliedmaßen abgestorben?
Mir wurde ein Medikament gespritzt, welches in dem Moment verabreicht wird, wenn ein septischer Schock einsetzt und die Organe plötzlich alle versagen. Weil zu befürchten war, dass in diesem Moment auch das Herz aussetzen würde, sollte das Medikament das Herz-Kreislaufsystem stabilisieren. Allerdings ist dadurch das Blut letztendlich nicht mehr in die Gliedmaßen geflossen. Meine Nase und meine Ohren waren danach anfangs auch ganz schwarz, das hat sich glücklicherweise wieder regeneriert.
„Er hat sich ganz rührend um alles gekümmert“
Nach Ihrem Krankenhausaufenthalt hat sich zwei Jahre lang ihr Ehemann Patrick (43), mit dem Sie seit 15 Jahren verheiratet sind, um Haushalt und Kinder gekümmert. Dabei hatte er vorher noch nie gekocht. Wie hat das funktioniert?
Er hat sich ganz rührend um alles gekümmert und war komplett für mich da. Inzwischen hat er auf diese Weise sogar richtig Spaß am Kochen entwickelt. Das hätte er sonst nie gemacht.
Das heißt, Ihr Mann musste seinen Job aufgeben?
Mein Vater, mein Bruder und ich betreiben ein Schreibwarengeschäft, in dem auch mein Mann angestellt ist. Deswegen konnte er zwischenzeitlich aussetzen und ab Oktober in Teilzeit arbeiten – was auch gut war, weil wir beide auch wieder unsere Freiräume brauchten.

Die Familie war Ninas großer Rückhalt nach einem Krankenhausaufenthalt, der ihr Leben für immer veränderte. Nina (41) und Patrick (43) sind seit 2005 verheiratet und haben zwei Kinder. (Foto: ZDF/Eduard Heizmann)
Er sagte über Sie: „Es war auch eine Herausforderung, meiner Frau nicht alles abzunehmen…“
Man fühlt sich in so einer Situation natürlich hilflos. Ich war schon früher so, dass ich immer gerne selber zugepackt habe, wenn mir etwas nicht schnell genug ging. Ohne diese Charaktereigenschaft hätte ich wahrscheinlich auch nicht so schnell Fortschritte gemacht. Ich konnte anfangs nicht mal ein Kosmetiktuch aus einer Box herausziehen. Also habe ich mich dann einen Tag lang hingesetzt, und nichts anderes gemacht, außer zu üben, dieses Tuch herauszuziehen. So habe ich auch andere Dinge allmählich wieder gekonnt. Die Erfolgserlebnisse, wenn etwas geklappt hat, waren natürlich umso schöner. Wenn mir immer alles abgenommen worden wäre, wäre ich sicher niemals an den Punkt gekommen, wo ich inzwischen stehe.
„Selbstständigkeit wieder zu erlangen war wunderschön“
Die kleinen Erfolgserlebnisse, selbst, wieder allein essen zu können, kann man als gesunder Mensch kaum nachvollziehen.
Diese Selbstständigkeit wieder zu erlangen war wunderschön, und alle haben jedes Mal lautstark applaudiert. Selbst eine Situation, wo ich mich kurz hingestellt habe, um ein Glas aus dem Schrank zu holen, haben wir in der Familie gefeiert. Diese winzigen Fortschritte waren damals riesengroß. Ich hatte im Prinzip zwei Jahre lang meinen Körper als Arbeits-Projekt, um meine Selbstständigkeit einigermaßen wiederzuerlangen.
Inzwischen haben Sie auch wieder laufen gelernt.
Ja! Seit meiner Vorderfußamputation kann ich meinen Fuß nicht mehr richtig abrollen. Ich war auch zwei Jahre lang komplett im Spitzfuß, deswegen kam es auch erst gar nicht zum Laufen. All das wurde auch ein bisschen verkannt, weil mein Körper so viele Baustellen hatte, dass man gar nicht wusste: Wo fängt man an? Man hat versucht die Achillessehnen zu dehnen, damit der Spitzfuß weggeht. Dann hat meine Schwester einen Spezialisten in Hamburg gefunden, woraufhin ich eine sechseinhalb Zentimeter-Verlängerung der Achillessehne bekam, sodass der Fuß überhaupt wieder auf den Boden kam. Die Muskeln am Schienbein habe ich auch beidseitig nicht mehr, das heißt, ich kann meinen Fuß nicht selbstständig anziehen, deswegen laufe ich wie ein Storch. Und wenn dieser Muskel nicht mehr da ist, verkürzt sich die Achillessehne komplett.

Nina (l.) musste neu laufen lernen und ist ein Leben lang auf Medikamente und Physiotherapie angewiesen. (Foto: ZDF/Eduard Heizmann)
Wie haben Sie das Laufen wieder gelernt?
Regelmäßiges Muskeltraining und das Gleichgewicht trainieren. Wegen der Gleichgewichtsstörungen muss ich mich extrem beim Gehen konzentrieren. Das bedeutet also Üben, Üben, Üben! So habe ich praktisch meine eigene Gangart wiederentwickelt. Problematisch war es auch, weil der Fuß immer wieder offen war – was leider immer wieder passieren kann, weil an Amputationsstellen manchmal eine Art Überbein, Wunden oder Entzündungen auftreten können. Deshalb musste bei mir im März letzten Jahres noch einmal eine Nachamputation durchgeführt werden. Zum Schutz bekomme ich demnächst Silikonprothesen, damit alles abgepolstert wird und der Schuh ausgefüllt ist. So kann ich im Prinzip auch jeden flachen Schuh anziehen. Das Laufen funktioniert, aber es ist leider immer noch recht schmerzhaft.
„Können mit schwierigen Situationen entspannter umgehen“
Wie hat Ihr Zustand die Familiensituation verändert oder Ihre Ehe belastet? Haben Sie sehr gelitten?
Es hat uns auf jeden Fall noch mehr zusammengeschweißt. Mein Mann und ich können heute auch mit schwierigen Situationen, die auf uns zukommen, entspannter umgehen – weil wir viel Erfahrung mit Krisensituationen haben. Geweint habe ich eigentlich kaum, weil ich immer den nächsten Schritt vor Augen hatte, meiner Familie erklärt habe, was ich schaffen will, und sie dann mitziehen musste.
Was nehmen Sie sich momentan vor?
Wieder Joggen zu gehen. Alle schreien: ‚Nein, um Gottes Willen!‘ Aber ich bekomme jetzt speziell für mich angefertigte Carbon-Prothesen, also mache ich das. Dabei wird mich wieder ein Fernsehteam begleiten.
Auch Ihre Schwester Nele ist Ihnen eine große Stütze, um die Hürden im Alltag zu überwinden. Inwiefern?
Nele kommt einmal die Woche, um mir die Haare zu machen. Ich kann ja nicht einmal mehr ein Zopfgummi um die Haare drehen. Sie hilft mir auch im Haushalt, wofür ich sehr dankbar bin. Außerdem hat mir mein Mann zu meinem letzten Geburtstag einen ganz tollen Lockenstab geschenkt, der die Haare von selbst eindreht. So kann ich mir sogar wieder selber Frisuren machen.

Als Folge einer schweren Sepsis benötigt Nina (l.) Unterstützung im Alltag. Bei ihrer Lieblingsfrisur hilft Schwester Nele, die mehrmals in der Woche vorbeikommt. (Foto: ZDF/Eduard Heizmann)
„Joel hat anfangs ziemlich gefremdelt“
Wie haben Ihre Söhne auf Ihre Veränderung reagiert?
Sehr unterschiedlich. Der Kleine, Joel (damals 3, heute 12), hat, als ich aus dem Krankenhaus kam, anfangs ziemlich gefremdelt. Er hat mich zwar ‚Mama‘ genannt, aber mich nur wenig beachtet, auch kaum angeschaut. Als ob er es nicht wahrhaben wollte, dass ich anders aussah und nun im Rollstuhl saß. Für den Kleinen war es bisher immer ganz wichtig gewesen, stolz zu seinen Eltern aufzublicken. Jetzt war es auf einmal so, dass ich nicht mehr wie bisher für ihn da sein konnte, ihm weder die Schuhe zubinden noch das Pausenbrot zubereiten konnte. Offensichtlich konnte er in dem Moment nicht akzeptieren, dass ich mich nicht mehr so um ihn kümmern konnte. Manchmal habe ich mich deshalb aus dem Rollstuhl erhoben, an eine Wand angelehnt und ihn hochgenommen. Dabei hat er sich an mich herangeklammert, und in dem Moment ist scheinbar eine Blase geplatzt, wo ich gemerkt habe, wie er es genossen hat, mir wieder nah zu sein.
Wie war es bei Ihrem älteren Sohn Liam, der damals sechs Jahre alt war?
Liam wollte immer für mich da sein, mir alles abnehmen und hatte große Angst um mich. Inzwischen ist es etwas besser geworden, aber es ist immer noch so, dass er mich am liebsten die ganze Zeit beschützen würde. Während ich ihm versichere, dass ICH immer für ihn da bin. Er ist sowieso ein sehr empathischer Junge, welcher gerne anderen Menschen hilft. Dann hatte ich 2017 noch einmal eine heftige Operation an der Hüfte, weil diese auch durch die ganzen Eingriffe kaputtgegangen war: Eine Hüftkopfnekrose, das heißt Knochenerkrankung des Hüftgelenks, wobei die Haut um die Hüfte abgestorben war und die linke Seite erneuert werden musste. Als ich nun wieder ins Krankenhaus musste, war das für Liam die Hölle. An dem Punkt haben mein Mann und ich uns gesagt, dass wir psychologische Hilfe für ihn brauchen.
Welche Art der Therapie ist erfolgt?
Liam war bei einer Traumatherapeutin, die ihm unter anderem Tricks gezeigt hat, mit bestimmten Situationen besser umzugehen. Zum Beispiel sollte er sich in schwierigen Momenten einen Tresor vorstellen, in den er alle schlimmen Gedanken hineinsteckt, und dann beim Abschließen an etwas besonders Schönes denkt. Für Stresssituationen hat er außerdem bestimmte Atem- und körperliche Übungen gelernt. Das alles hat sehr gut geholfen. Inzwischen braucht er auch keine therapeutische Hilfe mehr. Als ich nach der Hüft-OP wieder nach Hause kam und mich allmählich wieder regenerierte, ging es auch ihm wieder besser.
Kinder geben auch einer Mutter ganz viel Kraft…
Das stimmt! Vielleicht hätte ich all das ohne meine Kinder gar nicht überlebt. Ich glaube, sie haben mich am Leben gehalten – weil ich für sie da sein muss.

Mittlerweile kann Nina wieder Tischtennis spielen.(Foto: ZDF/Eduard Heizmann)
Inzwischen spielen Sie sogar wieder zusammen Tischtennis, haben Joel, nach dem Krankenhaus, sogar vom Rollstuhl aus das Radfahren beigebracht
Ich hatte eine Weile einen elektrischen Rollstuhl, weil ich einen manuellen Rollstuhl ja gar nicht mit meinen Händen hätte anschieben können. Das Radfahren hatten wir schon vor meiner Krankheit etwas geübt. Also hat es ganz gut geklappt, als ich ihn, nach meinem Eingriff, vom Rollstuhl aus Schwung gegeben habe.
„Es hat sich niemand abgewendet“
Stimmt es, dass Sie inzwischen wieder in Ihrem Geschäft arbeiten?
Ich bin eigentlich zu 99 Prozent im Homeoffice, mache die Dienstpläne, Neueinstellungen, Bewerbungsgespräche, Einkäufe von Schulsachen, Büchern und Geschenkartikeln, also das ganze Organisatorische. Natürlich hoffe ich, auch irgendwann wieder im Laden stehen zu können.
Wie reagiert das Umfeld heute auf Sie?
Familie, Freunde alle super. Es hat sich auch niemand abgewendet. Im Gegenteil: Das Netzwerk und der Freundeskreis, den ich vorher schon hatte, hat sich sogar noch erweitert, und alle kümmern sich ganz rührend um mich. Wenn ich anfangs, nach der OP, unterwegs war, bin ich nie ohne Hilfen oder Prothesen vor die Tür gegangen, auch damit die Leute meine Hände nicht sehen. Inzwischen ziehe ich im Restaurant sogar auch mal Prothesen aus, um besser die Gabel halten zu können. Natürlich schaue ich dann auch um mich herum, ob mich jemand sehen kann. Es war ein längerer Prozess, sicherer mit meiner Behinderung umzugehen.
Nachdem mich das ZDF für die Reportage „37° – Späte Diagnosen mit Folgen“ vier Jahre lang auf meinem Weg zurück ins normale Leben begleitet hat, bin ich auch dadurch selbstbewusster geworden. Meine Schwester spornte mich außerdem an, einen Account auf Instagram einzurichten, um andere in einer ähnlichen Situation positiv zu motivieren. Seitdem ich das gemacht habe und auf nina_lebt offen mit meiner Behinderung umgehe, habe ich gemerkt, dass ich mir mit dem offenen Umgang auch selber helfe. Dadurch, dass ich dort auch zeige, wie meine Hände und Füße aussehen, gehe ich heute wieder selbstbewusster ohne Prothesen vor die Tür.

Nina (41) fordert vom erst behandelnden Krankenhaus Schmerzensgeld sowie Schadensersatz. Die gerichtliche Auseinandersetzung dauert inzwischen etwa acht Jahre (Foto: ZDF/Eduard Heizmann
„Man denkt, dass diese Zeugin nur bestochen worden sein kann“
Bis heute kämpfen Sie, seit Jahren, vor Gericht um Schmerzensgeld und Schadensersatz. Ein langer Prozess, obwohl Ihnen mehrfach bestätigt wurde, dass das Krankenhaus in Gehrden hätte schneller reagieren müssen. Warum zieht sich das so lange hin?
Bevor ich überhaupt geklagt habe, habe ich die unabhängige Schlichtungskommisson der Ärztekammer kontaktiert, von der ich ein Gutachten bekam, das in allen Punkten für mich und gegen das Krankenhaus sprach, auch das Thema Kontrastmittel aufgedeckt hat. Danach gab es die erste Instanz im Landgericht Hannover, wo mir der dort bestellte Gutachter stattdessen weniger Recht gab und meine Klage innerhalb einer 20-minütigen Verhandlung abgeschmettert wurde. Dem Gutachten von der Schlichtungskommission wurde hier überhaupt keine Beachtung mehr geschenkt. Ich musste auch schmerzlich erleben, dass das, was dem Richter nicht vorher schon in Schriftstücken zugestellt war, im Endeffekt überhaupt keine Bedeutung hatte.
Daraufhin sind wir 2019 in Revision gegangen, haben einen Antrag auf Revision vorm Oberlandesgericht Celle gestellt, wo die Richterin mir bestätigte, hier sei ja alles schiefgelaufen, und dem Landgericht Hannover einen 14-seitigen Leitfaden weitergeleitet hat, über das, was alles im Prozess beachtet werden sollte. Außerdem haben wir einen Anwalt kontaktiert, der nur auf Patientenrecht spezialisiert ist, was von Vorteil war, und einen neuen Gutachter, den wunderbaren Thüringer Sepsisspezialisten Dr. Hendrik Rüddel, gefunden, der mir auch die 36-stündige Verschleppung im Krankenhaus Gehrden bestätigte, durch die ich fast gestorben wäre. Das Gericht bestand aber außerdem auf ein Gutachten eines Urologen, der Gott sei Dank auch von Herrn Rüddel kam. Dieser hat im Endeffekt das Ganze im September 2020 vor Gericht gedreht. Nach fünf Stunden lautete das Urteil: Hier liegt in gewissen Punkten ein Behandlungsfehler vor. Man solle sich außergerichtlich mit einem Vergleich einigen. Dem stimmte auch die Gegenseite zu. Und alle dachten, dass nun alles gut würde.
Doch nach der Verhandlung kam überhaupt nichts mehr von denen, sie haben auch auf meine Briefe nicht mehr geantwortet, auch nicht auf die Aufforderung des Gerichts. Bis ich, ein Jahr später, eine Nachricht erhielt, dass sich das Krankenhaus quer stellte. Auf einmal, im November 2021, kam ein Brief, in dem Zeugen vom Krankenhauspersonal vorgeladen wurden. Und eine davon bestätigte, dass ich überhaupt keinen Schüttelfrost gehabt hätte, sondern einen Tremor und es mir doch total gut gegangen sei, ich sogar herumgegangen sei – also alles andere als ersichtlich gewesen wäre, dass es mir richtig schlecht gegangen sei.
Unfassbar!
Ja, und dann steht man völlig perplex da, kommt sich vor wie in einem falschen Film und denkt, dass diese Zeugin nur bestochen worden sein kann. Also sollte meine komplette Familie bezeugen, wie schlecht es mir tatsächlich gegangen ist. Doch es kam gar nicht dazu. Stattdessen kam ein Zeuge nach dem anderen zu Wort, und alle meinten, dass sie sich gar nicht erinnern, geschweige denn diesen Fall überhaupt kennen würden – also praktisch gar nichts passiert sei.
Das ist ja schon kriminell! Wie ist der heutige Stand der Dinge?
Genau der. Seitdem ist nichts mehr passiert.
Was für ein Nervenstress! Welche Kosten mussten Sie bisher aus eigener Tasche aufwenden?
Ich habe insgesamt sechs Gutachten à circa 2.000,- Euro machen lassen. Daneben muss natürlich der Rechtsanwalt bezahlt werden, da die Rechtsschutzversicherung nicht alles abdeckt. Das bedeutet, momentan müssen wir sicherlich mit mindestens 14.000 Euro rechnen.
Zu Ihrer körperlichen Verfassung kommt somit die psychische Belastung?
Jedes Mal, wenn ein Schreiben von der gegnerischen Seite kam, war das für mich der totale Nervenstress. Zwischendurch hätte ich auch einige Male am liebsten alles hingeschmissen, weil mich der Prozess total mürbe gemacht hat. Ich habe ja noch das Glück, dass ich einen guten Job habe und mich meine Familie unterstützt. Jemand, der das nicht hat, oder in einem ähnlichen Zustand seinen Beruf verliert, ist gnadenlos zum Scheitern verurteilt. Ohne eigene Gutachten und Investition in einen guten Anwalt hat man keine Chance!

Nina ist ein positiver Mensch und blickt nach vorne – das gibt ihr Kraft. (Foto: ZDF/Eduard Heizmann)
Wie würden Sie Ihr Lebensgefühl heute beschreiben?
Eigentlich nicht viel anders als früher. Aber natürlich gibt es Situationen und Kleinigkeiten, die ich mehr zu schätzen weiß als vorher. Zum Beispiel bin ich unendlich dankbar, wenn ich meinen Kindern bei einer Aufführung zusehen kann und miterleben darf, wie sie heranwachsen. Während andere Familien über die Pubertät ihrer Kinder stöhnen, genieße ich diese Veränderungen und bin dankbar dafür, dass ich sie begleiten darf.
Was sind Ihre nächsten Pläne?
Zu meinen nächsten Pläne gehört, wie gesagt, das Joggen. Ich will mich wieder, wie früher, mehr bewegen und an meine Grenzen kommen. Dafür nehme ich auch in Kauf, dass ich an den Füßen wieder Wunden bekomme.
Sie scheinen generell ein sehr positiver Typ zu sein. Woher nehmen Sie Ihre Kraft?
Natürlich durch die Unterstützung von meiner Umwelt und Familie. Vielleicht liegt es auch in meinem Wesen, dass ich eher ein positiver Mensch bin. Wenn ich jemandem einen Tipp geben sollte, der sich hängen lässt, kann ich nur immer sagen: ‚Nach vorne blicken und nicht immer zurück, auch nicht darin vertiefen, was gewesen ist.‘ Ich gucke immer gerne nach vorne, nehme mir etwas vor, was ich schaffen möchte und dann arbeite ich daran. Vielleicht ist es das, was mir positive Energie gibt. Meine Schwester sagt immer, meine größte Hilfe sei meine Disziplin und mein Mut.
Herzlichen Dank für das Interview und alles Gute für Sie!
(RP)

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