Nicht die Größe zählt, sondern was dahintersteckt. So wie bei der kleinwüchsigen Fotografin Anna Spindelndreier aus Dortmund, die trotz ihrer 1,23 Meter und diversen Hürden im Alltag ganz viel Stärke, Durchsetzungsvermögen und Mut beweist.
Liebe Anna, mögen Sie mir vorab etwas zu Ihrer Person erzählen?
Ich bin mit zwei jüngeren Brüdern in Hamm aufgewachsen und bin die einzige Kleinwüchsige in unserer Familie. Bei meiner Behinderung, der Achondroplasie, handelt es sich um eine Genmutation – sozusagen eine Laune der Natur. Seit meinem Studium der Fotografie, also seit neun Jahren, lebe und arbeite ich in Dortmund.
Als freie Fotografin haben Sie sich auf Menschen mit Behinderung fokussiert, sich selbst praktisch zur Marke gemacht. Wie kam es dazu?
Nach meiner Ausbildung habe ich versucht, eine Festanstellung zu finden, habe aber leider nur Absagen erhalten. Also habe ich ein Jahr in einem Fotostudio im Sauerland assistiert und daraufhin beschlossen, mich selbstständig zu machen und daneben nochmal zu studieren. Seit meinem Bachelor im Oktober 2015 bin ich voll selbstständig und Mitbegründerin der seit einem Jahr aktiven Design- und Marketing-Agentur „helloyou.studio“ in Dortmund, die Grafikdesign, Film, Foto und Marketing anbietet.
Diese gegenseitige Unterstützung ist natürlich toll. Dadurch dass wir im Team viel mehr anbieten können, generiere ich gerade auch andere Jobs, die ich vorher wahrscheinlich nicht bekommen hätte. Gerade arbeiten wir an einer Porträtserie über diskriminierende Sprache. Was momentan wegfällt sind ja leider die Veranstaltungen und Ausstellungen. Aber ich kann mich jobmäßig nicht beklagen und versuche kreativ am Ball zu bleiben.
„Irgendjemand muss ja anfangen, etwas zu verändern“
Zurück zu Ihrem Fokus auf Menschen mit Behinderung. Wie entstand die Idee?
Dieser hat sich natürlich auch aufgrund meiner eigenen Geschichte herauskristallisiert. Zumal ich auch während meiner Ausbildung und im Studium gesehen habe, wie unterrepräsentiert die Darstellung von Menschen mit Behinderung ist, beziehungsweise wie schlecht oder stereotypen- und klischeebeladen die wenige Darstellung ist, die es gibt. Deshalb habe ich mich dem Thema mehr und mehr zugewendet. Ich muss gestehen, dass ich mich anfangs ein bisschen dagegen gewehrt habe, weil ich gedacht habe: Ich möchte auch mal raus aus meiner Bubble.
Schlussendlich ist es aber ein sehr schöner Weg, den ich gegangen bin, weil ich dadurch unglaublich spannende Leute kennengelernt habe. Ich denke auch: Irgendjemand muss ja anfangen, etwas zu verändern. Und wenn jeder etwas verändert, wird sich auch irgendwann langfristig etwas verändern.
„Ich erlebe eine starke Ellenbogenmentalität!“
Sie wünschen sich, dass Fotografen und Fotografinnen anfangen, divers zu denken und ihren Blick auf die Welt zu verändern. Auch wünschen Sie sich neue Vorbilder und eine Quote auf das Geschlechterverhältnis – nach dem Motto: Nur Vielfalt kann die Wirklichkeit richtig abbilden und unterrepräsentierte Gruppen stärker berücksichtigen. Wie meinen Sie das?
Jeder Fotograf bringt natürlich eine eigene Biografie und ein eigenes Verständnis von der Gesellschaft und deren priorisierter Menschengruppen mit, bildet insofern auch selbst die Wirklichkeit ab. Das heißt, viele Kollegen sind nicht so sensibilisiert für Themen, die weniger im Fokus stehen. Aufgrund ihrer persönlichen Sozialisation kommt möglicherweise ein vielfältigerer Blick nicht zum Zuge.
Auch ist es so, dass laut Studien 60 Prozent der Fotografen von Magazin-Titelcovern nach wie vor Männer sind. Frauen sind in diesem männerdominierten Beruf immer noch sehr unterrepräsentiert. Man kann sich also denken, welchen Status hier Frauen mit Behinderung haben. Ich erlebe in meiner Branche auch besonders auf Events eine starke Ellenbogenmentalität. Ich glaube, deshalb habe ich auch, schon aus Selbstschutz, meinen eigenen Tätigkeitsbereich gewählt, wo ich mich selbst wohlfühle.
„Kleinwüchsige Frauen im Beruf, eine doppelte Stigmatisierung“
Sie haben dazu 2017 ein freies Fotoprojekt zum Thema kleinwüchsige Frauen im Beruf ins Leben gerufen. Wo sehen Sie deren besondere Schwierigkeiten?
Ich nenne das immer die doppelte Stigmatisierung. Wie gesagt: A ist es schwierig, als Frau erfolgreich im Beruf zu arbeiten. B stehen die Chancen als Frau mit Behinderung entsprechend noch schlechter. Uns Kleinwüchsigen wird ja hin und wieder auch kognitive Unfähigkeit zugeschrieben. Das ist einfach anstrengend. Wenn ich auf einem Kundentermin auftauche, passiert es auch häufig, dass aufgrund von Berührungsängsten nicht mir, sondern meiner Assistentin der Job erklärt wird. Obwohl die Leute wissen, dass ich die Fotografin bin. Ich muss mich quasi immer doppelt behaupten. Andererseits hatte ich, als ich selbst noch assistiert habe, immer einen schnelleren Zugang zu Kunden. Auch zu schwierigen Kunden. Da wurden komischerweise Hemmschwellen wesentlich schneller abgebaut.
Interessant! Wo sehen Sie allgemein die Herausforderungen von kleinwüchsigen Menschen? Wo gibt es außerdem Probleme und Verbesserungsbedarf?
Wie auch bei anderen Menschen mit Behinderung ist es so, dass wir – im übertragenden Sinne – gefühlt doppelt so viele Schritte machen und doppelt so viel Energie aufwenden müssen, um etwas zu erreichen. Ich habe das Gefühl, dass ich immer 150 Prozent geben muss, damit ich mein Gegenüber 100 Prozent überzeugen kann. Entweder es gibt bürokratische Hürden oder physische Barrieren.

Anna Spindelndreier liebt ihren Beruf. Doch hat sie das Gefühl, immer 150 Prozent geben zu müssen, um ihr Gegenüber zu überzeugen.
(Foto: Andi Weiland/Gesellschaftsbilder.de)
Hat es sie stärker gemacht, dass Sie sich permanent durchsetzen müssen?
Ja, aber es ist auch anstrengend.
„Menschen mit Behinderung stehen beim Thema Diversity doch weit hinten!“
Aber das Thema Diversität steht ja immer mehr im Fokus. Sehen Sie persönlich auch Fortschritte?
Ich sehe das etwas zwiegespalten. Einerseits sehe ich gute Fortschritte, manchmal habe ich aber auch das Gefühl, dass ähnlich wie beim Klimathema auch hier werbewirksam „Diversitywashing“ betrieben und nach außen getragen wird. Nach dem Motto: Man muss das jetzt machen, also machen wir‘s auch. Aber es kommt nicht aus vollster Überzeugung. Ich habe nicht den Eindruck, dass Diversity auch firmenintern vorangetrieben wird. Mir gefällt das Ranking von Diversity auch nicht.
Die meisten verstehen das Thema eher geschlechterspezifisch, gefolgt vom Thema Herkunft – sprich Migrationshintergrund. Und Menschen mit Behinderung stehen in diesem Ranking immer ganz weit hinten – was ich generell sehr schade finde, denn Diversität hat nicht nur eine, sondern viele Ebenen. Unterm Strich sind die momentanen Fortschritte gut, aber mir fehlt manchmal noch das Herzblut und die Überzeugung.
Ganz toll finde ich Ihr ehrenamtliches Engagement für das Projekt „Auf Augenhöhe“. Das Modelabel beschäftigt sich mit der Entwicklung von Bekleidung für kleinwüchsige Menschen, was bisher eine Marktlücke war. Wie groß sind Sie selbst?
1,23 Meter. Oberteile finde ich eigentlich immer, weil meine Oberkörper-Länge normal groß ist. Aber Hosen sind leider immer ein Problem.
Tut sich inzwischen mehr auf diesem Gebiet?
Was man schon merkt, ist, dass sich in den letzten Jahren zunehmend ein Bewusstsein für normale Körper entwickelt hat. Die Models sind nicht mehr alle nur superschlank, sondern auch Plus Size ist angesagt, und es hat sich auch ein bisschen mehr das Bewusstsein für die Bedürfnisse von behinderten Menschen entwickelt. Es gibt jetzt auch Mode für Rollstuhlfahrer/innen. Das Problem bei uns ist: Es gibt 100.000 Kleinwüchsige in Deutschland – aber hierbei zusätzlich ziemliche Größenunterschiede.
„Bei Hosen trage ich meist Größe 36-38“
Müssen Sie zum Teil auf Kindergrößen zurückgreifen?
Dafür bin ich zu breit, das passt proportional gar nicht. Bei Hosen trage ich in der Regel Größe 36-38 und muss die dann immer kürzen. Auch hier muss ich immer „einen zusätzlichen Schritt machen“, das heißt, ich kann mir keine Hose kaufen und diese direkt anziehen, sondern muss sie immer erst umnähen lassen.
Bekommen Sie für solche Zusatzkosten staatliche Unterstützung?
Ehrlich gesagt, habe ich mich darüber noch nicht informiert. Mir ist auch immer der Papierkrieg bei solchen Anträgen zu viel. Als ich noch als Auszubildende angestellt war, habe ich eine Unterstützung für einen Auto-Umbau gekriegt. Für Selbstständige gelten wahrscheinlich andere Regeln. Das Einzige, wofür ich immer bei meiner Krankenkasse kämpfe, sind orthopädische Schuhe, weil ich sonst keine Schuhe für meine Füße finde. In der Länge habe ich Größe 32, in der Breite 39. Da passen natürlich keine Kinderschuhe.
„Ob ich jetzt 1,23 Meter oder 1,32 Meter bin, macht den Kohl auch nicht fett!“
Haben Sie schon mal mit dem Gedanken gespielt, eine komplizierte Beinverlängerung vornehmen zu lassen?
Ich weiß, dass ich im Pubertätsalter tatsächlich mal kurz mit dem Gedanken gespielt habe. Aber in der Pubertät zweifelt man ja meist auch ohne Behinderung an sich selbst. Ich habe mich dazu auch mit meinen Eltern ausgetauscht, aber das Thema war schnell vom Tisch, weil die Verfahren vor 20 Jahren noch ziemlich gruselig waren. Erst werden die Knochen gebrochen, dann die Beine von außen mit Drahtgestellen, die ins Fleisch führen, ruhiggestellt, um auch die Knochen zu fixieren. Außerdem musst du ein- bis zweimal am Tag selbst die Schrauben drehen, damit der gebrochene Knochen immer um einen Millimeter auseinandergezogen wird. Und allmählich wächst der Knochen dann wieder zu.
Diese Tortur dauert ungefähr ein halbes Jahr lang, und man ist für diese Zeit völlig außer Gefecht gesetzt. Trotzdem kann dir kein Arzt positive Ergebnisse garantieren. Deshalb habe ich mich letztendlich dagegen entschieden. Ich finde, ob ich jetzt 1,23 Meter oder 1,32 Meter bin, macht den Kohl auch nicht fett. Schöner wäre es doch, wenn die Gesellschaft offener wird, statt dass ich mich der Gesellschaft anpassen muss.
Haben Sie aufgrund Ihrer Größe eigentlich gesundheitliche Probleme? Ich habe gelesen, dass es bei Kleinwüchsigen häufig zu Mittelohrentzündungen kommt.
Ja, die hatte ich als Kind sehr häufig. Das ist aufgrund der Anatomie so, weil die Gehörgänge verengt sind. Dem kann man entgegenwirken, indem man Paukenröhrchen in das Trommelfell einsetzt, die dafür sorgen, dass man eine Dauerbelüftung der Ohren hat. Ich kann leider auch nicht sehr gut hören und trage seit meinem 13. Lebensjahr ein Hörgerät. Wenn ich acht Stunden am Tag fotografiere, bin ich danach auch immer körperlich platt. Eine Kamera hat ja auch ein ziemliches Gewicht, was ich häufig im Nacken und in den Oberarmen spüre. Mir ist auch bewusst, dass ich den Job sicher nicht bis zu meinem 60. Lebensjahr ausüben kann.
Was ist für die Zeit danach Ihr Plan?
Ich könnte mir vorstellen, dann als Bildredakteurin zu arbeiten oder nur noch Fotoshootings zu planen und andere Fotografen anzuleiten.

Engagiert bei der Arbeit: 2017 hat Anna Spindelndreier ein freies Fotoprojekt zum Thema kleinwüchsige Frauen im Beruf ins Leben gerufen.
(Foto: Andi Weiland/Gesellschaftsbilder.de)
Neben Ihrem ehrenamtlichen Engagement waren Sie bis 2017 Mitglied im Bundesvorstand des „Bundesverbandes Kleinwüchsige Menschen und ihre Familien (BKMF) e.V.“ und haben sich dort zehn Jahre lang für die Interessen und Belange kleinwüchsiger Menschen eingesetzt. Wie machen Sie sich und anderen Mut? Haben Sie auch selbst Vorbilder?
Das Thema Vorbilder war tatsächlich ein Problem meiner Jugend – weil ich im Grunde nie richtige Vorbilder hatte. Weil ich damals noch nicht viele Kleinwüchsige kannte. Der BKMF ist auch erst 33 Jahre alt, das heißt, ich bin mit dem Verein als erste Generation groß geworden. Die Arbeit war auch unglaublich wichtig, genauso wie die Sichtbarkeit von Behinderten in den Medien wichtig ist – weil vielen Menschen mit Behinderung die Vorbilder fehlen. Nach dem Motto: Wer bin ich überhaupt? Was kann ich sein? Was kann ich werden? Wenn du dir von einem Arbeitsamtmitarbeiter sagen lassen musst, dass dein Weg nur in die Werkstatt führt, weil er nur diesen Weg kennt, und du ihm auch nichts entgegnen kannst, weil du nicht weißt, was du theoretisch werden könntest, ist das sehr schade. Deshalb braucht‘s Vorbilder.
Wo schöpfen Sie im Alltag Kraft?
Wenn ich sehe, dass ich irgendwas bewirken konnte. Entweder aufgrund meiner Fotografie oder wenn ich allgemein positives Feedback bekomme, dass sich etwas bewegt hat. Auch mein Freundes- und Familienkreis gibt mir Kraft. Meine Eltern wohnen glücklicherweise nur 45 Kilometer entfernt in Hamm.
Sind Sie in einer Partnerschaft?
Nein, ich bin alleinstehend, wohne auch seit Dezember allein und genieße es, weil ich davor neun Jahre lang in einer WG gewohnt habe.
Was sind Ihre Hobbys?
Was ich momentan extrem vermisse ist, stundenlang auf‘s Meer zu gucken. Ansonsten habe ich kürzlich mit Freunden festgestellt, dass ich mittlerweile tatsächlich nur noch wenig Hobbys habe. Neben Spazierengehen gibt es ja gerade nicht mehr viel an Freizeitaktivitäten. Ich habe eine Zeitlang Badminton gespielt, das ist inzwischen leider eingeschlafen. Mein damals größtes Hobby, die Fotografie, habe ich zum Beruf gemacht. Und ich habe mal eineinhalb Jahre lang Schlagzeug gespielt. Das würde ich gerne wieder anfangen.
Was tun Sie für Ihre Gesundheit und Ihr Wohlbefinden?
Im Moment, wie gesagt, sehr viel Spazierengehen. Ansonsten ist mir ein stetiger Austausch mit Freunden und Freundinnen wichtig, um in dieser Zeit der Isolation die Kontaktpflege nicht zu vernachlässigen.
Was sind Ihre Pläne und Wünsche für die Zukunft?
Mein Hauptwunsch ist, dass ich das, was ich tue, möglichst lange machen kann, körperlich durchhalte und dass wir auch als Agentur die nächsten 20 Jahre erfolgreich sein werden.
Vielen Dank für das Interview.
(RP)

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