Als Dirk Lohan, der Enkel des Architekten Ludwig Mies van der Rohe, in den 1960er Jahren mit seinem Großvater die Baustelle der Neuen Nationalgalerie besuchte, lernte er viel über barrierefreies Bauen. Mies war damals bereits gebrechlich und Lohan, selbst Architekt und Bauleiter beim letzten großen Projekt seines Großvaters, musste ihm assistieren, wenn er bei allen Bauprozessen beteiligt werden wollte. „Ich bin viel mit ihm gereist, auch als er schon im Rollstuhl saß“, erinnert sich Lohan heute.
„Es war nicht immer einfach, den nicht gerade leichten Mann steile Treppen hinauf oder ins Flugzeug hinein zu bekommen. Ich habe dadurch viel über Barrierefreiheit gelernt, das gab es damals in den Planungen noch gar nicht. Seitdem bin ich sensibilisiert für das Thema“.
Und so war Lohan, der als ehemaliger Bauleiter eng in die Sanierung des Mies-Baus einbezogen wurde, auch in alle Planungen zur Verbesserung der Barrierefreiheit des Hauses involviert. Tatsächlich stellte die zeitgemäße Umsetzung von barrierefreien Zugängen bei gleichzeitiger Wahrung der Denkmalschutz-Auflagen die Fachleute heute vor die eine oder andere Herausforderung.
Barrierefreiheit und Denkmalschutz gleichberechtigt
Die große Ausstellungshalle der Neuen Nationalgalerie ist auf einem monumentalen Sockel positioniert, der zwischen ein bis vier Meter über dem Straßenniveau liegt. Die Haupteingänge sind zwei dezente Karusselltüren, die elegant in die umlaufende Glasfassade integriert sind. Unüberwindliche Hindernisse für Menschen im Rollstuhl oder mit Kinderwagen? Als Bundesbauvorhaben beinhaltet die Grundinstandsetzung der Neuen Nationalgalerie deutliche Anstrengungen, die Barrierefreiheit des Gebäudes zu verbessern. Barrierefreie Gebäude müssen auch für Menschen mit motorischen, visuellen, auditiven sowie kognitiven Einschränkungen leicht auffindbar, gut zugänglich und vor allem einfach nutzbar sein.

Der Eingangsbereich des Museum mit Karusseltüren (Foto: David Chipperfield Architects/BBR)
Im Falle der Neuen Nationalgalerie gilt allerdings auch zu berücksichtigen, dass Barrierefreiheit und Denkmalschutz gleichberechtigte Anforderungen an die Bauaufgabe stellen. Im aktuellen „Leitfaden Barrierefreies Bauen“ des Bundesbauministeriums heißt es daher:
„Barrierefreiheit in einem historischen Kontext zu erreichen, erfordert die Suche nach kreativen, maßgeschneiderten Lösungen, die nicht zwangsläufig mit den Belangen des Denkmalschutzes in Konflikt treten müssen. Es ist das Ziel, durch kreativen Umgang mit den Vorgaben des barrierefreien Planens und Bauens und den Belangen des Denkmalschutzes zu einer barrierefreien, integrierenden Grundkonzeption einer Bauaufgabe zu gelangen, ohne wesentlich in die Bausubstanz einzugreifen.“
Maßnahmen in die Ästhetik einfügen
In Abstimmung mit Behindertenbeauftragten des Landes Berlin sind verschiedene Maßnahmen geplant gewesen. Für Menschen mit Mobilitätseinschränkung wurden Gehwege, WC-Anlagen, Kassen- und Garderobentresen sowie der Personenaufzug barrierefrei gestaltet. Es wurden Bewegungs- und Begegnungsflächen eingerichtet, die Türen im Betrieb offen gehalten und im Außenbereich Infosäulen installiert. Auch für Menschen mit Seheinschränkung wurden verschiedene besondere Vorkehrungen getroffen: so gibt es neben dem bereits erwähnten barrierefreien Personenaufzug und den Infosäulen im Außenbereich auch taktile Handlaufinformationen, Treppenstufenmarkierungen und Kunstlichtgestaltung. Menschen mit Höreinschränkung schließlich, profitieren von einer Sprachalarmierungsanlage, einer Hörverstärkungsanlage und optischen Alarmierungsanzeigen.

Die Architekten von David Chipperfield Architects haben eine Vielzahl von barrierefreien Details geplant und umgesetzt. (Foto: David Chipperfield Architects/BBR)
„Die Kunst besteht darin, dass die Umsetzung der Maßnahmen nicht aussieht wie gebaute Richtlinien, sondern sich in die Ästhetik des Mies-van-der-Rohe-Baus einfügt“,
erklärt Daniel Wendler von David Chipperfield Architects. An der Südostecke des Grundstücks ist ein barrierefreier Zugang durch zwei bauzeitliche Rampen bereits angelegt, die allerdings noch zu steil sind. Die Planung sah daher vor, den Bestand anzupassen bzw. zu erweitern. Die Bestandsrampe wurde zu einem Gehweg mit circa drei Prozent Neigung umgebaut, der Treppenhandlauf mit integrierter taktiler Information versehen und Stufenmarkierungen angebracht. Der Hauptzugang zum Gebäudeinneren erfolgt von der Terrasse stufenlos für alle Besucher über die Ostfassade.

Aus den Entwürfen: Die Rampe mit niedriger Steigung. (Foto: David Chipperfield Architects/BBR)
Neben den beiden Karusselltüren stehen Drehflügeltüren für Rollstuhlbenutzer sowie für Besucher mit Kinderwagen und die Doppel-Drehflügeltüren in der westlichen Glasfassade zur Verfügung. Die Zugangssituation für Besucher mit Mobilitätseinschränkung wird durch die Ergänzung eines neuen Selbstfahreraufzugs deutlich verbessert. Der Einbau des Aufzugs in die nördliche Garderobe fügt dem puristischen Raum kein sichtbares Bauteil hinzu. So setzten sich die Maßnahmen im Museum fort mit unterfahrbarem Kassentresen und Garderobe bis hin zu akustischem Alarm.
Mit diesen Maßnahmen wird das Haus nach seiner Eröffnung heutigen Maßstäben an Barrierefreiheit entsprechen, ohne dass die ursprüngliche Ästhetik von Mies van der Rohe beeinträchtigt wird. Das Museum wird damit zeitgemäß und bleibt dennoch zeitlos – eine Lösung, die dem Meister sicher gut gefallen hätte.
(Dieser Text erschien erstmalig auf dem Blog der staatlichen Museen zu Berlin. ROLLINGPLANET bedankt sich herzlich für die Unterstützung.)

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