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Wahrnehmungssache

Hast du es mal mit Meditation probiert?

Immer wieder geben mir Menschen gut gemeinte Ratschläge für mein vermeintlich schlechtes Energiemanagement. Aber nicht-autistischen Menschen fällt es schwer, sich in andere Lebensrealitäten hinein zu fühlen und zu verstehen, dass nicht immer alles so funktioniert, wie sie es kennen. Von ROLLINGPLANET-Kolumnistin Marlies Hübner

ROLLINGPLANET-Kolumnistin Marlies Hübner
ROLLINGPLANET-Kolumnistin Marlies Hübner. (Foto: Mascha Seitz)
Unsere Kolumnisten schreiben unabhängig von ROLLINGPLANET. Ihre Meinung kann, muss aber nicht die der Redaktion sein.

 

An einem Nachmittag in der Zeit vor Corona, also vor gefühlt 126 Jahren, teilte ich meinen Kolleg*innen mit, dass ich es wieder nicht schaffe, nach der Arbeit mit ihnen in eine Bar zu gehen. Meine Kollegin sah mich daraufhin sehr besorgt an und sagte: „Schon wieder? Marlies, hast du es schon mal mit Meditation probiert?” 
Ich muss verwirrt ausgesehen haben, der Zusammenhang erschloss sich mir nicht. 
„Yoga hilft auch”, ergänzte sie.

„Beim Cocktail trinken?”
Alle lachten. „Nein”, sagte sie. „Beim Entspannen. Weil du immer so wenig Energie hast.”

Situationen wie diese sind mir nicht neu. Immer wieder geben mir Menschen gut gemeinte Ratschläge für mein vermeintlich schlechtes Energiemanagement. Sie wissen nicht, wie es ist, wenn ein Spaziergang, eine Meditation oder eine Runde Videospiele nicht erholsam ist. Eine Nacht Schlaf lädt meine Batterien nicht wieder auf. Aber nicht-autistischen Menschen fällt es schwer, sich in andere Lebensrealitäten hineinzufühlen und zu verstehen, dass nicht immer alles so funktioniert, wie sie es kennen.

Meine Reaktion auf diese Ratschläge wirkt auf Menschen oft abweisend und unhöflich. Aber ich fühle mich in solchen Momenten sehr unverstanden und vor den Kopf gestoßen. Das kann und will ich nicht überspielen.

Erzähle ich anderen behinderten Menschen von solchen Situationen, kann ich davon ausgehen, verstanden zu werden. Egal, welche Behinderung wir haben, energiefressende Barrieren lauern überall und machen uns das Leben schwer. Wir sind wie ein Geheimclub – aber einer, dessen Mitglieder zu erschöpft sind, um sich zu treffen.

Haben Sie sich schon mal aus- und wieder eingeschaltet?

Tatsächlich ist mein Energiemanagement überdurchschnittlich gut. Ich habe es im Laufe der Jahre immer weiter verbessert, meine Erlebnisse und Erfahrungen einfließen lassen und mir Sicherheitsnetze geknüpft. Ich weiß, wann ich die Notbremse ziehen muss, um mir eine Pause zu nehmen. Es ist ein ausgeklügeltes System, das ich permanent optimiere. Trotzdem bin ich die meiste Zeit meines Lebens erschöpft. Oft habe ich schon mittags keine Energie mehr und sehne mich nach meiner ruhigen Wohnung.

Mein autistisches Gehirn braucht Ruhe und Vorhersehbarkeit, Pläne und Sicherheit. Es arbeitet am besten, wenn man ihm eine klare Struktur gibt und Routinen etabliert. Unvorhergesehenes oder starke Sinnesreize können es schnell überfordern. Dann bekomme ich einen Overload. Das ist eine Überlastungsreaktion, die man sich vorstellen kann, als würde sich ein Computer bei zu starker Arbeitsspeicherauslastung aufhängen. Einen Computer kann man allerdings neustarten, damit er wieder funktioniert – mich leider nicht.

Im Gegensatz zu Menschen ohne Autismus hat meine Wahrnehmung keine Filter. Jeder Sinnesreiz wird registriert und will verarbeitet werden. Das betrifft die Lichtsituation ebenso wie Gerüche, haptische Reize oder Geräusche. Alles wird ungefiltert wahrgenommen und erreicht ohne Umwege mein Gehirn.

Trial and Error in sozialen Situationen

Das ist aber nicht alles. Auch soziale Situationen sind für autistische Personen schwierig. Es fällt uns schwer, non-verbale Kommunikation zu lesen, und wir verstehen den Subtext einer Kommunikation nicht immer. Andeutungen, Redewendungen und Höflichkeitslügen sind wie eine komplizierte Fremdsprache. Gruppendynamiken empfinde ich als großes Rätsel. Es ist, als hätten alle ein Drehbuch erhalten, nur ich nicht.

Um trotzdem in der Gesellschaft zurechtzukommen, analysiere ich jeden Augenblick mit anderen Menschen und versuche, schnell und richtig zu reagieren. Ich erkenne Verhaltensmuster, kann Erfahrungen einfließen lassen und andere Menschen imitieren. Manchmal rate ich auch einfach, ob es gerade besser ist zu lachen, oder eben nicht.

Dieses Vorgehen ist fehleranfällig. Aber das ist nicht das Problem. Mit dieser Art Fehler kann ich leben. Sie passieren allen Menschen, auch wenn ich das Gefühl habe, bei Autist*innen würden sie stärker wahrgenommen und schneller sanktioniert. Ich räume mir trotzdem – oder gerade deshalb – das Recht ein, dass auch ich als Autistin Fehler machen darf, falsch reagieren kann und gelegentlich aus der Rolle falle.

Das Problem ist viel mehr die Energie, die diese Vorgänge benötigen. Wenn Kommunikation nicht intuitiv erfasst wird und automatisch abläuft, sondern in Echtzeit und bewusst analysiert und bewertet werden muss, strengt das massiv an. Irgendeine Art der Kommunikation findet immer statt. Sinnesreize nimmt man permanent wahr. Um Kommunikationsfreiheit muss man sich bewusst bemühen.

Meistens bin ich erschöpft

Intensive Sinnesreize, soziale Analyse, Kommunikation, der Aufbau und Erhalt von Strukturen, Planungen und Routinen sind das, was ich zusätzlich zu Alltag, Beruf, Freund*innen, Familie und Freizeit leisten muss. Was bei Nicht-Autist*innen automatisch abläuft, ist für mich harte Arbeit. Es fühlt sich an, als würde ich zusätzlich zu meinem normalen Beruf auch noch Vollzeit als Projektmanagerin für mein Leben arbeiten, nur dass dieser Job unbezahlt ist und man kein Wochenende und keinen Urlaub in Anspruch nehmen kann.

Wenn ich auf dem Arbeitsweg schon in der U-Bahn zwischen eine Kindergartengruppe gerate, der nachfolgende Bus Verspätung hat und ich auch noch viel zu warm angezogen bin, ist meine Kraft schon verbraucht, bevor ich überhaupt das Büro erreiche. Nach dem vereinbarten Telefonmeeting mit dem Schweizer Büro, das ich so kurzfristig nicht absagen kann, bin ich endgültig zu erschöpft, um an diesem Tag noch irgendetwas Sinnvolles zu schaffen oder Menschen zu treffen. Ich will einfach nur noch ins Bett.

Um es für nichtautistische Menschen zu veranschaulichen: Jede*r kennt es, wenn man vom Wetter überrascht wird, von der Baustelle unter dem Fenster genervt ist, den Bus verpasst, oder neben einer sehr schlecht riechenden Person steht. Notfälle sind unangenehm, manchmal sehr anstrengend. Plötzliche Zahnschmerzen können die ganze Planung durcheinanderbringen. Während sich Nicht-Autist*innen darüber ärgern und abends vielleicht etwas müder sind als sonst, kann einer dieser Punkte meine Energie für den ganzen Tag verbrauchen.

Meine Barrieren sind eure Normalität

Das alles ist aber nicht meine Schuld. Kraft kosten mich diese Barrieren in Form herausfordernder, schwieriger Situationen in meinem Leben. Barrieren, die man verringern kann, wenn das Umfeld mitspielt. Beruflich funktioniert das zum Beispiel durch Homeoffice, flexible Arbeitszeiten und freie Zeiteinteilung. Durch E-Mails statt Meetings und fest eingeplante Pausen in Ruheräumen. Vieles davon würde auch nichtbehinderten Arbeitnehmer*innen guttun. Sie sind nur nicht so sehr darauf angewiesen wie ich. Meine Barrieren sind ihre Normalität. Das Problem: Warum sollte die Mehrheitsgesellschaft etwas verändern, das für sie funktioniert?

Ich wünsche mir jeden Tag, dass mein Leben so planbar wäre, dass ich möglichst viel Energie für die schönen Dinge übrighätte. Ich will auf das Konzert dieser tollen Band gehen, will Freund*innen und Kolleg*innen nach der Arbeit treffen, konzentriert Bücher lesen oder mal wieder einen Film ansehen. Aber die Realität sieht anders aus. Der Alltag hält viele anstrengende Barrieren bereit, erfordert Umwege und Extrameilen. Er braucht mehr Kraft als ich habe. Darum muss ich oft absagen, früher nach Hause gehen und darauf vertrauen, dass mein Umfeld Verständnis hat und endlich mit mir gemeinsam eine Barriere nach der anderen abbaut.

Marlies Hübner erhielt mit 27 Jahren die Diagnose Autismus. Die in Wien lebende Autorin betreibt unter www.robotinabox.de einen der meistgelesenen Blogs zum Thema Autismus im deutschsprachigen Raum.

Marlies Hübner hat außerdem das sehr lesenswerte Buch „VERSTÖRUNGSTHEORIEN - Die Memoiren einer Autistin, gefunden in der Badewanne“ geschrieben. Sie können es beim sozialen Buchshop BmitW (Bücher mit Wirkung) bestellen, der Vereine und gesellschaftliche Projekte unterstützt.

Alle Kolumnen von Marlies Hübner auf ROLLINGPLANET
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ROLLINGPLANET ist seit 2012 Deutschlands Onlinemagazin für Menschen mit Behinderung und alle anderen. ROLLINGPLANET ist ein Non-Profit-Projekt, realisiert vom Verein Menschen, Medien und Inklusion e.V., München. Mehr über unser Team erfahren Sie hier.

1 Kommentar

1 Comment

  1. Paul

    14. Juli 2022 um 11:57

    Danke! „Mein Text“ – so hatte ich mir gerade gedacht. Bin 50+ und weiß seit ca. 1;5 Jahren um das Thema „Mensch mit starken autistischen Zügen“. Diagnose? – Wartezeiten ohne Ende, oder Fachleute, die nur noch potentiell Betroffene aus dem direkten Wohnort/der direkten Region aufnehmen. Das Thema ASS, gerade bei Erwachsenen, ist so neu, so vielfältig und bringt so wenig Verständnis im Umfeld auf. Nein, die Menschen sind nicht böse, sie wissen nur nichts damit anzufangen! Der Arm in Gips? Keiner käme auf die Idee und würde fragen, ob man zum Basketball spielen geht. „Downies“ sind schon deutlich weiter und besser in der Gesellschaft akzeptiert, weil der neurotypische Mensch schon viel davon mitbekommen hat. Ja, wir kämpfen jeden Tag und vieles was für die nicht-ASS betroffenen Menschen normal ist, oder sogar toll, sorgt bei uns u.U. für einen total abgestürzten Tag. Entsprechend andauernd sogar in schweren Depressionen. Danke für Ihren Text und Ihre Aufwände.

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