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Virtual Reality ist immer noch eine neue Technik, die in ihren Kinderschuhen steckt. Das Eintauchen in eine andere Welt soll eine spaßige und aufregende Erfahrung sein. Ich habe mich gefragt, ob das nicht eine gute Möglichkeit bietet, das Sexleben von behinderten Menschen zu bereichern. Da wurde es Zeit für einen Selbsttest.
Virtuelle Realitäten waren lange Zeit nur eine Fantasie, eine fixe Idee von Science-Fiction-Autor*innen, nichts weiter. Versteht mich nicht falsch, ich liebe die meisten dieser Ideen. Wenn ich die Worte Virtual Reality lese oder höre, denke ich immer noch als erstes an das Holodeck auf der Enterprise aus „Star Trek: The Next Generation“ oder an den Roman „Neuromancer“ von William Gibson, welcher als Grundstein des Cyberpunk-Genres gilt, aber auch an die OASIS aus „Ready Player One“ von Ernest Cline.
Mittlerweile ist diese Fantasie zur Realität geworden, wenn auch erst mal in einem sehr kleinen Rahmen. Wir nutzen Virtual Reality mittlerweile in vielen verschieden Einsatzgebieten, beispielsweise in der Geschäftswelt. Von virtuellen Museumsbesuchen über virtuelle Kunst hin zum virtuellen Training, aber auch bei Anwendungen zur Unterstützung von Reparaturarbeiten, wie zum Beispiel in der Luftfahrt.
Eine Bereicherung für das Liebesleben?
Im privaten Bereich ist die Technik eher ein Spielzeug. Wir können über den Meeresboden spazieren, alte Ruinen wieder aufbauen und durch sie wandern oder fremde Planeten aus nächster Nähe betrachten. Die Spieler können wahlweise auch in Gladiatorenkämpfen stehen, Bomben entschärfen oder sich direkt in das Cockpit eines Flugzeugs oder Rennwagens setzen.
Vor ein paar Wochen diskutierte ich über die spielerischen Möglichkeiten, denn ein Freund dachte daran, sich eine VR-Brille zu kaufen. Innerhalb dieser Diskussion, die sich zwischenzeitlich schon weit von ihrem Ursprung entfernt hatte, sagte er zu mir Folgendes: „Denk doch mal an die alten Menschen im Altenheim. Wie viele von diesen Leuten liegen nur noch im Bett und starren an die Decke? Wäre es nicht eine angenehme Abwechslung für sie, über den Meeresboden zu laufen oder durch einen Dschungel?“
Nun gut, dieser Vorstellung konnte ich grundsätzlich natürlich kaum widersprechen. Doch meine Gedanken kreisten sofort um ein anderes Thema. Wie lässt sich diese Technik für das Liebesleben von behinderten Menschen einsetzen? Welche Möglichkeiten gibt es bereits? Um das herauszufinden, gab es nur eine Möglichkeit: Es wurde Zeit für einen Selbsttest.
Die Technik: Aller Anfang ist schwer
Natürlich musste ich mir erst einmal selbst eine VR-Brille besorgen. Gute Brillen sind allerdings gar nicht so günstig zu bekommen. Bei Amazon bekommt man eine Oculus Rift, mit der ich letztlich auch den Test machte, momentan ab etwa 400 Euro. Für einen Test war mir das ehrlich gesagt zu teuer, die eigene Anschaffung fiel also aus. Glücklicherweise hat sich einer meiner Spielpartner dazu entschlossen, seine Oculus Rift S für diesen Test zur Verfügung zu stellen.
Wir entschieden uns zunächst dazu, die Brille bei mir zu testen, folglich mussten wir die Software zuerst auf meinem Rechner zum Laufen bringen. Keiner von uns vermutete hier ein Problem, denn durch meine Liebe zum Gaming besitze ich immer recht gute PCs, wenn auch nie High-End-Rechner. Ich kann die allermeisten Spiele auf hohen Grafikeinstellungen spielen, ohne Einbußen bei der Performance hinnehmen zu müssen. Wo sollte hier also ein Problem liegen?
Nun, wo genau das Problem lag, weiß ich bis zum heutigen Tag nicht. Wir schafften es jedenfalls nicht, die Software auf meinem Rechner zu installieren. Die Mindestanforderungen sind wirklich kein Hindernis und selbst die empfohlenen Spezifikationen sollten für keinen Gaming-PC ein Problem darstellen. Der Hersteller empfiehlt folgende Komponenten:
- Intel i5-4590/AMD Ryzen 5 1500X oder höher
- NVIDIA GTX 1060/AMD Radeon RX 480 oder besser
- mindestens 8 GB RAM
- Windows 10
- 1 x USB-3.0-Anschlüsse
- Kompatibler DisplayPort-Videoausgang
- mindestens 4 GB freien Speicherplatz
Doch kurz nach dem Ausführen des Set-ups kam bereits die entscheidende Fehlermeldung: nicht genügend freier Speicher. Ich fand diese Meldung zwar seltsam, denn ich hatte auf meiner C-Partition noch gut 20 Gigabyte frei, aber okay, so was ist eigentlich kein Problem. Also wollte ich auf meine Spiele-Partition wechseln, hier gab es immerhin fast 300 Gigabyte an freiem Platz. Doch jetzt musste ich feststellen, dass man den Pfad während des Set-ups nicht verändern kann, die Software wird also automatisch auf die Boot-Partition installiert und die Benutzer*innen sollen dies nicht ohne weiteres verändern können. An dieser Stelle ist Google immer ein Freund – und tatsächlich scheint dieses Problem nicht so selten zu sein, denn es gibt etliche Themen in unterschiedlichen Foren und auch der Oculus-Support bietet eine Lösung an. Ich gebe also im Befehlsfenster „Ausführen“ den passenden Befehl ein, wechsle dadurch den Installationspfad und es taucht wieder das gleiche Problem auf. Nach drei Stunden gebe ich entnervt auf – die Lust auf etwas Erotik ist zu diesem Zeitpunkt ohnehin schon lange dahin. Wir verschieben den Test auf einen anderen Tag in seiner Wohnung.
Schwere Brille: Eine unbequeme Situation
Zwei Wochen später komme ich schließlich doch noch zu meinen ersten Erfahrungen im Bereich der VR-Pornografie. Über Webseiten wie Pornhub, Youporn oder VRSmash findet man reichlich VR-Pornos, die meisten sind auf einen 180-Grad-Blickwinkel ausgelegt, allerdings erfreut sich die 360-Grad-Blickwinkel-Sparte eines starken Wachstums. Hier wird lediglich eine 360-Grad-Kamera auf Kopfhöhe eines Darstellers oder einer Darstellerin positioniert, drehe ich also meinen Kopf, so kann ich mich im Raum umsehen. Auf diese Art wollen die Hersteller die maximale Immersion erzeugen.
Doch schon beim Aufsetzen der Brille musste ich feststellen, dass ich sie als unangenehm empfinde. Mir kam sie unerwartet schwer vor und im Bereich um die Augen spürte ich schnell einen sehr unangenehmen Druck. Den konnte ich zwar vermeiden, indem ich die Brille etwas weiter stellte, allerdings schloss sie dann nicht mehr richtig ab und ich konnte den Raum um mich herum wieder wahrnehmen. Beides schien mir nicht optimal, letztlich entschied ich mich für die enge Variante und nahm das drückende Gefühl in Kauf, immerhin wollte ich ja richtig eintauchen. Da half auch kein Positionswechsel, ob sitzend oder liegend, die Brille wollte nicht bequemer werden.
Kenny und ich sitzen auf einer weißen Couch
Schließlich begannen wir, allen Widrigkeiten zum Trotz, doch noch mit dem Test. Zuerst wollte ich mit einem normalen 2D-Porno starten, also ab in den virtuellen Kinosaal, um dort auf einer Leinwand einen gewöhnlichen Porno zu sehen. Tja, was soll ich sagen, nach zehn Minuten hatte ich davon schon wieder genug. Es ist reichlich unspektakulär, einen gewöhnlichen Film auf einer VR-Brille zu sehen. Selbst mein absolutes Lieblingspornostudio konnte hier nicht für Stimmung sorgen. Langweilig – weiter gehts!
Dann ist es so weit, der VR-Film flackert durch die Brille. Ich befinde mich auf einer weißen Couch in einer recht modern eingerichteten Villa. Durch die Fenster und die Glastür scheint die Sonne herein und ich erhasche einen kleinen Blick in den Garten, der Rasen sieht gepflegt aus. Ich richte meinen Blick nach rechts und sehe neben mir einen Mann sitzen, ich beschließe, ihn Kenny zu nennen. Kenny, benannt nach dem armen Jungen aus der Serie South Park. Ich nenne ihn deshalb so, weil sein Outfit in dieser prunkvollen Umgebung reichlich deplatziert wirkt. Jetzt wird es Zeit, mich selbst zu betrachten. Zu meinem Entsetzen muss ich feststellen, dass Kenny offenbar mein Zwilling ist, na großartig. Entweder gehören Kenny und ich nicht hierher, oder wir konnten uns nach dem Kauf dieser Villa keine anständigen Klamotten leisten. Wenn ich mich umsehe, klingt Letzteres wahrscheinlicher.
Drei Schönheiten kommen zur Sache
Erst jetzt bemerke ich die drei Schönheiten, die sich uns frontal nähern. Eine der Frauen bewegt sich direkt auf Kenny zu, eine andere kommt zu mir und die dritte bewegt sich hinter die Couch. Kenny sieht aus, als hätte er Spaß, ich bin lediglich etwas verwirrt, als sich meine Partnerin zwischen meine Beine kniet. Irgendwie will der Funke nicht so wirklich überspringen. Die Frau hinter der Couch hat sich zwischenzeitlich auf einen Stuhl gesetzt. Während ich sie ansehe, fällt mir zum ersten Mal die extreme Unschärfe an den Bildrändern auf. Als ich mich wieder auf meine Partnerin konzentriere, stelle ich erstaunt fest, dass ihr BH und meine Hose auf erstaunliche Weise verschwunden sind. Meine Hose liegt wahrscheinlich bereits in der Altkleidersammlung, ich bedauere es nicht, obwohl ich befürchte, mir keine Neue leisten zu können. Alles was folgt, ist ein typischer Porno. Irgendwann zwischendurch beschließe ich, noch einmal nach Kenny zu sehen, er hat offensichtlich weiterhin deutlich mehr Spaß als ich, ebenso wie die Dame hinter mir, die offenbar reichlich Spaß mit sich selbst hat. Gerade als ich mir Gedanken über die Inneneinrichtung machen will, ist der Film vorbei.
Intimrasur im Folterkeller
Ich lasse mir die Brille abnehmen und stelle fest, dass das Video offenbar nur fünf Minuten gedauert hat. Es kam mir länger vor und meine Stimmung ist zu dem Zeitpunkt auf dem Tiefpunkt. Allerdings wollte ich noch nicht aufgeben, deshalb bitte ich meinen Partner um Hilfe. Der Plan für den nächsten Versuch lautet wie folgt: Ich sage ihm, was ich sehe, sein Teil besteht darin, mich möglichst an den Stellen zu berühren, die auch mein Gegenüber in dem folgenden Video berühren wird. Um es noch authentischer zu machen, wechseln wir in den Gay-Bereich.
Ich setze die Brille erneut auf und wir starten den nächsten Versuch. Diesmal befinde ich mich offensichtlich in einem Keller. Um mich herum sind blanke Ziegelmauern, nicht besonders hübsch, aber ich fühle mich hier trotzdem seltsam wohl. Hinter mir ist nichts, was ich wortwörtlich so meine, denn es ist ein 180-Grad-Film. Ich sehe also nur das, was sich vor mir abspielt. Also richte ich den Blick nach vorne. Vor mir befindet sich ein Mann, dessen Körper von keinem einzigen Haar geziert wird. Damit bildet er einen ziemlichen Gegenentwurf zu meinem virtuellen Ich, denn anscheinend bin ich ziemlich behaart und hätte eine Ganzkörperrasur wohl bitter nötig. Dann beginnt die Intimrasur und ich gebe meine Eindrücke als Befehle an meinen Partner weiter. Das klingt dann zwar zwischenzeitlich, als würde man eine erotische Twister-Version ausprobieren: „Rechte Hand auf linken Oberschenkel, höher, noch ein bisschen, gut so. Jetzt streicheln.“ Doch es funktioniert so für uns beide deutlich besser. Trotzdem kann ich mich immer noch nicht wirklich mit meiner „Rolle“ aus dem Video identifizieren und daher kommt auch keine Immersion zustande.
Mein Fazit: Luft nach oben
Ich tue mich mit meinem Fazit etwas schwer. Einerseits muss ich sagen, dass ich durchaus Potenzial erkennen kann, auch für behinderte Menschen. Andererseits gibt es aktuell einfach noch zu viele Probleme, teilweise sind diese technischer Natur, beispielsweise durch Bildhänger oder Verzögerungen, aber auch durch die angesprochene Thematik mit der Unschärfe. Darüber hinaus wäre noch erwähnenswert, dass ich die Brille nicht allein bedienen konnte, ohne meinen Partner wäre ich aufgeschmissen gewesen. Hier müsste die Bedienung deutlich innovativer werden.
Das größte Problem war aber die nicht vorhandene Immersion. In VR-Pornos gibt es meistens nur perfekte Körper, wie in den meisten Pornoproduktionen. Darin kann ich mich nicht erkennen, obwohl ich meinen Körper akzeptiere. Hersteller von Sextoys arbeiten zwar fleißig an Spielzeugen, die sich mit den Filmen koppeln lassen, die japanische Sextoyfirma Tenga hat beispielsweise den Ganzkörperanzug „Illusion VR“ herausgebracht, der massiert, vibriert und manuell befriedigt – doch ob das wirklich hilft, kann ich nicht beurteilen.
Erst mit realer Person wird es reizvoll
Das Erlebnis wurde für mich erst einigermaßen reizvoll, als ich meinen Partner spüren und riechen konnte. Daher nahm ich die Brille auch mitten im zweiten Film ab, denn ich hatte Besseres zu tun. So widme ich meinen Partnerinnen und Partnern doch lieber meine ganze Aufmerksamkeit.
Was die Frage nach dem Nutzen für behinderte Menschen betrifft, bin ich etwas zwiegespalten. Für Menschen mit neuromuskulären Erkrankungen ist die Brille meiner Meinung nach nicht geeignet, dafür ist sie zu schwer. Ich kann aber nicht beurteilen, ob andere Modelle ebenso schwer sind, einen gravierenden Unterschied in der Gewichtsklasse kann ich mir allerdings nicht vorstellen. Das drückende Gefühl ist ebenfalls so eine Sache, die für viele Menschen sicher sehr unangenehm sein dürfte, ich denke hier besonders an ein paar meiner Bekanntschaften aus dem neurodiversen Spektrum.
Also Potenzial ist da, ja. Eine Empfehlung zur Anschaffung gebe ich aber nicht, jedenfalls nicht, wenn ihr mit einer VR-Brille erotische Abenteuer erleben wollt. Dafür kommt für meinen Geschmack noch zu wenig dabei herum.
Chris (31) ist ein Münchner Kindl und lebt in der „Weltstadt mit Herz“. Seine Krankheit trägt den Namen SMA (Spinale Muskelatrophie) Typ 2. Chris ist Transmensch und pansexuell und schreibt bevorzugt über die Themen Dating, Liebe, Sex, BDSM oder Tantra. sexabled.deAlle Kolumnen von Chris auf ROLLINGPLANET

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