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Grünenthal-Eigentümerfamilie bittet Contergan-Opfer um Verzeihung

Es ist eine Überraschung: Von den Inhabern des Pharma-Unternehmens kommt eine persönliche Entschuldigung an die Contergan-Geschädigten – Jahrzehnte nach der folgenschweren Markteinführung des Schlafmittels.

Verpackung des Medikaments Contergan
(Foto: Frank Leonhardt/dpa )

60 Jahre nach Marktrücknahme des Schlafmittels Contergan hat die Eigentümerfamilie des Herstellers die Opfer um Entschuldigung gebeten. Für den „gesamten Inhalt dieser Zeit von 60 Jahren“ entschuldige er sich im Namen seiner ganzen Familie, sagte Michael Wirtz für die Eigentümerfamilie der Pharmafirma Grünenthal. Die Entschuldigung richte sich an „eine große und auch im Wesentlichen unbekannte Größe von betroffenen Menschen in Deutschland, aber auch in Europa.“

Die persönlichen Worte äußerte Wirtz in einem aufgezeichneten Gespräch mit dem früheren Vorsitzenden des Bundesverbands Contergangeschädigter, Georg Löwenhauser. Ein Ausschnitt aus dem Video wurde am Samstag bei einer Online-Veranstaltung des Bundesverbands zum 60. Jahrestag der Marktrücknahme des Medikaments eingespielt.

Der frühere geschäftsführende Grünenthal-Gesellschafter sagte darin, die Betroffenen erwarteten, dass sich die Familie Wirtz äußere und das „nicht versteckt hinter einer juristischen Person der Grünenthal GmbH“. Er betonte: „Und das tue ich hiermit in aller Offenheit und hochoffiziell unter Zeugen, dass ich mich für diese Thematiken, die sich bei Ihnen in all’ diesen Familien abgespielt haben, ausdrücklich entschuldige.“

Georg Löwenhauser

Georg Löwenhauser, früherer Vorsitzender des Bundesverbands Contergangeschädigter, war von der Entschuldigung positiv überrascht. (Foto: picture alliance/Sven Hoppe/dpa

5.000 Kinder mit Fehlbildungen

Contergan mit dem Wirkstoff Thalidomid war im Oktober 1957 auf den Markt gekommen und hatte zu einem der schlimmsten Skandale der Nachkriegsgeschichte geführt. Etwa 5.000 Kinder kamen in Deutschland mit Fehlbildungen zur Welt, häufig mit verkürzten Armen oder Beinen, nachdem ihre Mütter Contergan in der Schwangerschaft eingenommen hatten. Am 27. November 1961 nahm Grünenthal das Medikament vom Markt. Viele Opfer sind bereits gestorben. Etwa 2.400 Contergan-Geschädigte leben heute mit erheblichen Beeinträchtigungen.

Für viele dieser Menschen sei die Katastrophe keineswegs vorbei, hieß es in einer Erklärung des Bundesverbandes Contergangeschädigter. Durch die jahrzehntelange Fehlbelastung von Wirbelsäule und Gelenken in Folge der Conterganschädigungen stellten sich jetzt Folgeschäden ein, die verstärkten Therapiebedarf brächten. Viele Betroffene seien jahrzehntelang von ihren Eltern betreut worden, die aber nun selbst hilfs- und pflegebedürftig würden. „Was wird aus uns, nun da wir älter werden?“, hieß es in der Erklärung.

„Aus vielen Gesprächen wissen wir um die Bedeutung dieser Geste für viele von Contergan betroffene Menschen und deren Eltern. Wir begrüßen diesen Schritt daher sehr“, hieß es in einer Reaktion des Unternehmens Grünenthal auf die Äußerung von Wirtz. „Er ist ein wichtiger Punkt auf dem eingeschlagenen Weg des Dialogs zwischen den Betroffenen, Grünenthal und der Eigentümerfamilie.“

Löwenhauser positiv überrascht

Löwenhauser, der sich an der aus Hamburg ausgestrahlten Online-Veranstaltung am Samstag beteiligte, sagte zu der Entschuldigung, er sei positiv überrascht worden. Sie sei „mit Sicherheit absolut ernst gemeint.“ Laut Betroffenenverbänden ist eine klare Bitte um Verzeihung für viele Opfer wichtig. Das Unternehmen hatte sich 2012 dafür entschuldigt, nicht früher auf die Opfer zugegangen zu sein. Opferverbände hatten das damals aber als wertlos oder sogar beleidigend bezeichnet.

Grünenthal betonte am Samstag in einer Erklärung aus Aachen: „Wir können nicht ändern, was geschehen ist. Aber wir wollen mit unserer Grünenthal-Stiftung zur Unterstützung Thalidomid-Betroffener Verantwortung übernehmen und unseren Beitrag zur Verbesserung der Lebensqualität leisten.“ Die Contergan-Tragödie sei Teil der Unternehmensgeschichte „und wir bedauern die weitreichenden Folgen zutiefst.“

(RP/dpa)

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