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Ich bin ein Behinderter. Pardon! Ein Mensch mit Behinderung. Und das schon lange. Das heißt, früher war ich ein Behinderter, jetzt bin ich ein Mensch mit Behinderung. Was für ein Aufstieg! Die Menschwerdung eines Behinderten hautnah miterleben zu dürfen, erfüllt mich mit gewissem Stolz. Keine Frage: Mensch werden lohnt sich.
Seither ging ich gestärkt und frohlockend durch die Welt, erhobenen Hauptes und versöhnt mit der Gegenwart – die ist nämlich gar nicht so schlecht, wie alle meinen –, bis mir ein eher unsensibler Zeitgenosse das Wort „invalid“ um die Ohren schlug. Darauf war ich nicht gefasst. Das war ein Schlag in die Magengegend. Woher er das habe, zischte ich ihm entgegen. „Aus dem Gesetzbuch“, antwortete er ziemlich ungerührt. Invalidität bezeichne dort die Erwerbsunfähigkeit infolge Krankheit oder Gebrechen, die dann auch, zumindest in der Schweiz, zu einer Rente berechtigt, zu einer Invalidenrente natürlich. Offenbar hatte ich es mit einem Juristen zu tun. Aber wenn Sie mich fragen: Solche Kloben kommen bei mir in die Schublade der scheinbar Nichtbehinderten. Pardon! Der Menschen nur scheinbar ohne Behinderung.
Das Wort „invalid“ hat eben auch den Geruch von ungültig, unwert, schwach und hinfällig
Ich bin ein Invalidenrentner. Pardon! Ein Mensch mit Invalidenrente. Warum mich das stört? Das Wort „invalid“ hat eben auch den Geruch von ungültig, unwert, schwach und hinfällig. Und es hat sich im allgemeinen Sprachgebrauch eingenistet, weit über das rein Rechtliche hinaus. Ich galt als Invalider, lange bevor ich eine Rente bezog. So eine Frechheit!
Heute attestiert mir die Versicherung einen Invaliditätsgrad von nicht ganz siebzig Prozent. Es sind mir also noch etwas über dreißig Prozent Menschlichkeit geblieben. Damit kann ich nur leben, weil mir im Gegenzug monatlich eine Rente ausbezahlt wird – ein Schweigegeld gleichsam. Mit Hilfe dieses Geldes ringe ich um jedes Prozent Menschlichkeit, das ich zusätzlich ergattern kann. Das kann ganz schön anstrengend sein. Die Menschwerdung hatte ich mir einfacher vorgestellt.
P.S.: Letzthin saß ich in einer klaren, lauen Nacht unter dem Sternenhimmel. Es war still um mich her. Auch in mir drin war das übliche Geplapper vorbei. Die Sterne flackerten. Und in ihrem Schein wuchs in mir die Gewissheit: Ja, ich bin ein Mensch.
Unser Kolumnist Walter Beutler wurde 1956 in Basel geboren. Zwei Jahre später erkrankte er an Kinderlähmung und ist seither Rollifahrer. Zwar im Heim aufgewachsen, aber trotzdem kein Heimkind. Zwar ein Mensch mit Körperbehinderung, aber trotzdem nicht behinderter als die anderen auch. Der Schweizer veröffentlicht regelmäßig auf seinem Blog Walter B.s Textereien und auf ROLLINGPLANET.
Walter Beutler hat zudem das Buch „Mit dem Rollstuhl ans Ende der Welt – Meine Reise durch Indien“ geschrieben. Sie können es im sozialen Buchshop BmitW (Bücher mit Wirkung) bestellen, der Vereine und gesellschaftliche Projekte unterstützt.
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