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Gesellschaft & Politik

Der ganz eigene Jakobsweg der Aktivistin Kati Jördel

Das Schicksal stellte sie bereits vor viele Herausforderungen – doch das hielt die Wiedenbrückerin nicht davon ab, sich einen außergewöhnlichen Traum zu erfüllen. Im Interview mit ROLLINGPLANET erzählt die 43-jährige Rollstuhlfahrerin, was sie antreibt. Von Anke Sieker

Kati Joerdel im E-Rollstuhl
Kati Jördel lässt sich nicht unterkriegen – ihr Motto lautet: Man darf den Kopf in den Sand stecken, aber nur für ein Peeling. Es ist reinigend und wichtig, aber danach muss es weitergehen.‘ (Foto: Holger Preuss Fotografie)

Nachdem die heute 43-jährige Wiedenbrückerin Kati Jördel 2014 an einer spastischen Spinalparalyse – einer Erkrankung des Rückenmarks, die zu einer fortschreitenden Spastik und Lähmung der Beine führt – erkrankte, beschloss sie 2017, ihren eigenen Verein „Ein Teil vom Ganzen all inklusiv“ zu gründen. Sie selbst hatte so viel Zuspruch und Hilfe erfahren, dass sie auch andere Menschen, die schwere Zeiten durchzustehen haben, unterstützen wollte. Und weil sich die Dreifach-Mama, die von diversen Schicksalsschlägen immer wieder vor neue Herausforderungen gestellt wurde, auch selbst nie aufgegeben hat, verwirklichte sie sich sogar ihren persönlichen Jakobsweg – mit dem Rollstuhl 600 Kilometer von Rheda-Wiedenbrück bis nach Lindau zurückzulegen.

„Ich wollte eine Grenzerfahrung machen“

Sie hatten sich kürzlich ein sehr spektakuläres Ziel gesetzt – mit dem Rollstuhl von Rheda-Wiedenbrück bis zum Bodensee zu fahren und die 600 Kilometer in zehn Etappen à 60 km zurückzulegen. Sie haben es tatsächlich geschafft! Wie kamen Sie auf die verrückte Idee?

Ich wollte eine Grenzerfahrung machen. Sonst schränkt mich mein Körper immer arg ein, jetzt wollte ich mir einfach mal selber eine Grenze setzen und Regie über meinen Körper führen. Als ich noch gesund war, war es mein großes Ziel, einmal einen Marathon zu laufen oder den Jakobsweg zu gehen. Leider habe ich es nie geschafft. Und dieses Jahr ist familiär viel passiert: Meine Mama ist an Krebs verstorben, und auch in den letzten Jahren hatte ich einiges zu bewältigen. Mein Bruder ist 2011 verstorben, meine Tochter hat extreme gesundheitliche Probleme, und hinzu kommt die Angst, dass mein Körper zunehmend abbaut. So entstand mein Wunsch, sozusagen in Bewegung den Weg zu mir selber zu finden. Dass ich tatsächlich mein Ziel erreicht habe, ist auch für mich bis heute unglaublich, und ich bin jetzt noch beeindruckt, was ich dabei alles bewältigt habe. Es war eine extrem spannende Erfahrung.

Wie haben Sie sich körperlich vorbereitet?

Dadurch, dass mein Mann und meine Kinder immer für mich da sind, habe ich mir geschworen, werde ich immer alles dafür tun, meinen körperlichen Zustand zu erhalten. Statt viele Schmerzmedikamente zu nehmen, mache ich dreimal die Woche Physiotherapie, zweimal Ergotherapie, habe einen Motomed, und bin im Sommer häufig schwimmen gegangen bzw. laufe mit einem Aquagürtel im Wasser. Ich habe meine Orthesen und kann Schmerzen auch ganz gut aushalten, aber natürlich war die Tour eine ganz neue extreme Herausforderung. Das größte Geschenk war, dass das Wetter im Oktober noch so gut war.

Verraten Sie mir, was Sie beruflich gelernt haben?

Ich bin gelernte Holzmechanikerin, dann habe ich eine Dialyse-Krankenschwesterausbildung gemacht, danach bin ich Tagesmutter geworden und habe einen Fernlehrgang zur Erziehungsberaterin gemacht. Aber genau in dem Jahr, als ich den Abschluss dafür bestanden hatte, bin ich krank geworden. Deswegen ist es mir auch so wichtig, noch eine Aufgabe zu haben und mit meinem Verein „Ein Teil vom Ganzen all inklusiv“ bedürftige Menschen zu unterstützen.

Auf Ihren Verein kommen wir später noch. Wann sind Sie aufgebrochen?

Am 1. Oktober bin ich losgefahren und am 10. Oktober in Lindau angekommen. Wir haben gute Freunde dort, die wir auch jedes Jahr besuchen. Deswegen hatte ich mir dieses Ziel gesetzt, auch weil die Gegend wunderschön ist. Ich hatte außerdem über meinen Facebook-Blog „Ein Teil vom Ganzen“ viele tolle Menschen aus der Umgebung kennengelernt, die ich jetzt gerne auch mal treffen wollte. Bereits vor einem Jahr hatte ich einen neuen Elektro-Rollstuhl bestellt und lange darauf gewartet. Nachdem er im November endlich eingetroffen war, wollte ich ihn jetzt auch mal richtig nutzen. Gerade während des Lockdowns war es extrem hart, wenn ich nicht selbstständig rauskonnte, weil ich ja bisher immer auf jemanden angewiesen war, der mich schiebt. Ich hatte früher einen kleine Zusatzmotor an meinem Rollstuhl, den konnte ich aber aufgrund meiner Spastik im rechten Arm nicht mehr bedienen – weil ich nicht mehr die Kraft hatte, den Reifen festzuhalten. Und ich bin jemand, der viel draußen an der frischen Luft nachdenkt – ich nenne es liebevoll Kopf-Frei-Tour – das was ich früher laufend gemacht habe. Das ging mit dem alten Rollstuhl leider nicht mir.

Kati Jördel mit dem Bürgermeister vor der Stadthalle

Die Tour von Kati Jördel (2.v.r.) startete am 1. Oktober. Auch der Bürgermeister ihrer Heimatstadt, Theo Mettenborg (l., CDU), hat es sich nicht nehmen lassen, die Wiedenbrückerin zu verabschieden. (Foto: privat)

Auch die sozialen Kontakte fehlten mir. Ich konnte es also kaum erwarten, selbstständig zu fahren. Zwischenzeitlich hatte ich allerdings noch – wegen eines Geschwürs am Finger – eine OP, sonst wäre ich schon viel früher aufgebrochen. Meine Freundin Steffi hatte mir dann erzählt, dass im Oktober der Dreiländermarathon am Bodensee stattfindet. Das hat mich auf die Idee gebracht: ‚Dann könnte ich ja vielleicht mal nachfragen, ob ich wenigstens zum Schluss durchs Ziel fahren darf.‘ So könnte ich einmal einen meiner größten Träume, an einem Marathon teilzunehmen, verwirklichen. Und weil die Rennleitung so begeistert von meiner Idee war, schlug man mir vor, ich könne mich mit meinem Rollstuhl zwischen den Läufern und Walkern einordnen und, natürlich auf eigene Verantwortung, sogar den Viertelmarathon mitmachen und danach durchs Ziel fahren.

Das tat ich dann auch, und tatsächlich hat mich in dem Moment, als ich durchs Ziel fuhr, der Stadionsprecher über den Lautsprecher angekündigt, und die ganze Tribüne ist aufgestanden, was ein absolut bewegendes Erlebnis war. Mein Adrenalin war unterwegs auch so hochgeschossen, dass in dem Moment, als ich durchs Ziel gefahren bin, alles an Emotionen und Überwältigung hochgekommen ist. Anschließend habe ich sogar eine Medaille erhalten. Witzig war auch, dass mich am Schluss der ORF interviewte und ich anschließend im Nachbarland Vorarlberg auf der Sporttitelseite erschien – und das als Rollstuhlfahrerin mit einer verrückten Idee.

„Das Wir-Gefühl in der Gesellschaft stärken“

Ihren Verein „Ein Teil vom Ganzen all inklusiv“ haben Sie im Juni 2017 gegründet – und unterstützen damit deutschlandweit Menschen, die schwere Zeiten durchzustehen haben. Stimmt es, dass Sie mit Ihrer außergewöhnlichen Fahrt eine Spendenaktion für eine Familie verbunden haben, die es hart getroffen hat?

Richtig! Mein Anliegen mit meinem Verein ist es generell, das Wir-Gefühl in der Gesellschaft zu stärken und eine Anlaufstelle für Menschen mit körperlichen und seelischen Einschränkungen zu sein. Die Idee zu der Spendenaktion ist letztes Jahr entstanden, als ich noch, wegen des Tumors im Finger, im Krankenhaus lag. Eine Freundin erzählte mir zu der Zeit, dass in unserem Freundeskreis ein Vater bei einem tragischen Verkehrsunfall ums Leben gekommen sei. Sein 14-jähriger Sohn, der mit im Fahrzeug saß, hätte dabei starke Verletzungen erlitten und ebenfalls ums Leben gekämpft und müsste nun eine Reha machen. Unvorstellbar, was dabei auch die Mutter durchgemacht haben muss. So entstand bei mir die Idee, ähnlich wie in Schul-Challenges, pro gefahrenen Kilometer Spendengelder zu sammeln und der Familie wenigstens ein bisschen Erleichterung zu schenken. Tatsächlich beteiligte sich die Stadt, ein Versicherungsbüro und Menschen, die über meinen Verein von dieser Spendenaktion erfahren hatten, so dass bisher bereits 5.000 Euro zusammengekommen sind.

Was hat Sie außerdem motiviert, die lange Fahrt auf sich zu nehmen? Sie sprachen ja bereits an, dass es Schicksalsschläge in Ihrer Familie gab und Sie eine Grenzerfahrung machen wollten.

Ich war früher ein totaler Bewegungsmensch. Ich denke, ich hatte sogar ADHS, was nie diagnostiziert wurde, denn ich war permanent in Bewegung, sehr gelenkig, immer draußen, habe getanzt, war sogar Tanzmariechen und habe in der Schule bei allen Sportwettkämpfen mitgemacht. Doch im Laufe der Jahre gab es, wie gesagt, viele Schicksalsschläge, die wir bewältigen mussten. Aus meiner ersten Ehe, die nicht hielt, entstammen drei Kinder. Und meine Tochter Elisa (20) ist schwer an Krebs erkrankt. Sie hat beide Nieren verloren, war ein Dialyse-Kind und hatte wahnsinnige Thrombosen in der Herzschlagwand. Die Odyssee der Operationen begann bereits mit ihrem zweiten Lebensjahr. Seit 2005 ist sie transplantiert, sie hatte das volle Programm Chemotherapie und ist dem Tod sozusagen immer wieder von der Schippe gesprungen.

In unserer Familie passierte einiges: Mein ältester Sohn Jannik (24) ist Autist und hat das Asperger-Syndrom, musste deshalb auf eine Förderschule. Auch hier waren wir als Eltern ständig gefordert, haben ihn aber gut in seiner Selbstständigkeit gefördert. Unser Jonas (22) ist glücklicherweise nicht körperlich eingeschränkt, dagegen sportlich hochmotiviert, und ich bin froh, dass ich meine Kinder ganz gut beim Erwachsenwerden begleiten konnte. Deshalb bin ich auch dankbar, dass meine eigene Krankheit erst 2014 begann, ich Elisa also noch während all ihrer Eingriffe zur Seite stehen konnte. Damals bin ich noch regelmäßig joggen gegangen, war mit den Kindern viel in der Natur und auf den Spielplätzen – Hauptsache Bewegung an der frischen Luft.

Unfassbar, was Sie durchgemacht haben und dennoch voller Tatendrang und positiver Energie sprühen!

Ich habe ganz viel auf der Kinderkrebsstation gelernt. Mit wie viel Mut die Kinder mit ihren Krankheiten umgehen und daran wachsen, ist unglaublich. Deswegen werde ich auch niemals in meinem Leben jammern. Meine Krankheit bewältige ich dadurch auch ganz anders. Das meiste habe ich tatsächlich von meiner Tochter gelernt. Was sie als Kleinkind durchmachen musste – davor ziehe ich meinen Hut.

„Unsere Liebe ist immer mehr gewachsen“

Bei so vielen Schicksalsschlägen – verliert man dabei nicht seinen Gottglauben? Wie haben Sie sich Ihre Stärke bewahrt?

Das weiß ich auch nicht so genau. Man wächst mit den Aufgaben. Bei Jannik mussten in der Kleinkindphase Paukenröhrchen eingesetzt werden. Schon das war für mich eine riesige Katastrophe. Zu der Zeit hatte ich ja noch keine Ahnung, was uns noch mit Elisa bevorstand und ich später selber durchmachen sollte. Deshalb bin ich auch sehr dankbar, dass mir mein jetziger Mann Carsten (48) kurz nach der Trennung ins Leben geschickt worden ist und bis heute nicht weggelaufen ist (lacht). Er hat sich immer auch ganz stark für meine Kinder eingesetzt, sie medizinisch mit versorgt und auf sie aufgepasst. Unsere Liebe ist tatsächlich nach und nach immer mehr gewachsen. Wir haben auch recht schnell geheiratet. Wir sind 2004 zusammengekommen und haben bereits ein Jahr später geheiratet. Vielleicht auch, weil wir so viel miteinander erlebt haben, was andere in 60 Jahren nicht erleben.

Kati Jördel mit ihrem Mann Carsten

Kati Jördel mit ihrem Mann Carsten (Foto: privat)

Irgendwie ist so im Laufe der Jahre ein kleiner Kampfdackel in mir gewachsen. Man fällt hin, steht wieder auf und kämpft immer weiter. Letztes Jahr hatte ich auch derbe Panikattacken bekommen, denn das Schlimmste war wirklich für mich, nicht selbstständig raus zu können. Glücklicherweise habe ich einen tollen Psychologen an meiner Seite, der mich unterstützt. Und ich bin auch dankbar für das, was ich noch kann – dass ich noch sprechen kann, dass ich wieder alleine nach draußen kann und mich frei in meiner Wohnung bewegen kann. Wie viele Menschen mit ALS oder anderen Erkrankungen liegen bei klarem Verstand nur im Bett. Ich versuche immer das Positive zu sehen, auch wenn ich feststelle, dass ich von Jahr zu Jahr weniger machen kann.

Zu dem Verlauf Ihrer Krankheit. Sie erzählten, dass Sie seit 2014 erste Symptome einer spastischen Spinalparalyse – einer Erkrankung des Rückenmarks, die zu einer fortschreitenden Spastik und Lähmung der Beine führt – bekamen. Ein schleichender Prozess?

Ja, es krampfte auf einmal mein rechtes Bein, und wir wussten überhaupt nicht, was los war.

Anfangs dachten wir, es sei vielleicht eine Borreliose, und mein Hausarzt schickte mich ins Krankenhaus, wo die Spastik festgestellt wurde. Ab dem Zeitpunkt ging die Odyssee los. Es war tatsächlich ein schleichender Prozess. Erst hatte ich Probleme im linken Bein, dann bekam ich eine Baclofenpumpe – mit der das spastiklindernde Medikament direkt in den Rückenmarkskanal befördert werden kann – unter die Bauchhaut eingesetzt. Dazu wurde Botox injiziert. Dann haben sich durch die Spastik die Knochen rechts verbogen und die Füße sind ganz krumm geworden, so dass ich in die Klinik nach Aschau kam. Neben Muskelumstellungen auf beiden Beinen musste mein rechter Fuß gebrochen und ein Stück vom Becken eingesetzt werden.

Was sagen die Ärzte über den Verlauf Ihrer Krankheit?

Dass sie weiter fortschreiten wird. Die Pumpe wird regelmäßig erhöht, ich bekomme immer mehr Botox, deshalb ist für mich die Physiotherapie auch so wichtig.

Hoffentlich haben Sie Glück, und die Krankheit stagniert! Kommen wir wieder zurück zu Ihrer Tour nach Lindau. Hat Ihr Mann Sie begleitet?

Ja, er hat mich mit dem Wohnmobil begleitet, welches Freunde von uns organisiert und sogar für die Zeit bezahlt haben. Unterwegs hat mein Mann sogar online gearbeitet. Er macht generell fast alles mit mir und macht mir immer Mut. Er hat auch zuhause sein Büro eingerichtet, um bei mir zu sein und versucht, alles möglich zu machen was geht. Er hat ja auch den Krankheitsverlauf von Anfang an mitbekommen und packt mich auch nicht in Watte, was ich gut finde. Angst und Mitleid bräuchte ich nicht. Mein Motto nach dem vielen Fallen lautet: ‚Man darf den Kopf in den Sand stecken, aber nur für ein Peeling. Es ist reinigend und wichtig, aber danach muss es weitergehen.‘

„Letztes Jahr war extrem schlimm“

Viele andere in Ihrer Situation würden wahrscheinlich in Depressionen versinken. Woher nehmen Sie Ihre positive Energie?

Tatsächlich habe ich mir Hilfe gesucht und einen Therapeuten an meiner Seite. Letztes Jahr war extrem schlimm. Ich bin in ein tiefes Loch gefallen, wie schon lange nicht mehr. Wenn mein Mann unterwegs war, hatte ich Angst, dass er nicht zurückkommt oder ihm irgendwas passiert. Ich machte mir Sorgen um Elisa und ihre neue Niere. Ich war in einem totalen Gedankenkarussell, so dass ich nachts kaum mehr schlafen konnte.

Was macht Ihr Mann beruflich?

Er ist Support-Manager bei einem Hersteller von ergonomischen Hilfsmitteln. Das heißt er ist auch in dem Metier tätig, in dem ich mich bewege.

Was haben Sie während Ihrer ungewöhnlichen zehntägigen Fahrt erlebt?

Ich hatte endlich wieder das Gefühl von Selbstständigkeit und Freiheit – was ich wunderbar fand. Und es gab natürlich ganz viele unterschiedliche Eindrücke. Die Städte waren extrem beeindruckend – ich habe aber auch mitbekommen, wie viele Barrieren es unterwegs gab – z.B. bei den Bundesstraßen, an denen es keinen Seitenstreifen gab, und wo bei meiner inneren Anspannung sofort die Spastik eingeschossen ist. Auf der anderen Seite die Schönheit der Natur, durch die ich auch mit dem Rollstuhl unterwegs war und wobei mein Körper wieder runtergefahren ist.

„Sie dachte, ich sei unzurechnungsfähig“

Angeblich gab es schon am ersten Tag eine brenzlige Situation?

Ja, es ging schon sehr spannend los. Nachdem mich tagsüber noch Freunde und auch meine Kinder bis nach Lippstadt begleitet hatten und es etwas später als geplant wurde, bin ich erst im Dunkeln im Hochsauerland angekommen. Mein Mann hatte angerufen, dass er mir später mit dem Mountainbike entgegenkommen würde. Doch bis dahin war ich allein unterwegs. Und plötzlich bemerkte ich, wie über eine lange Zeit ein Auto, in meinem Tempo, hinter mir herfuhr – was wirklich gruselig war. Rundherum waren nur Berge, es war dunkel und ich wurde zunehmend nervöser, bis dass ich mir ein Herz nahm und rechts ranfuhr. Und das Auto hielt ebenfalls hinter mir, aber niemand ist ausgestiegen. Auch als ich mich umdrehte, konnte ich nicht sehen, wer am Steuer saß. Also bin ich weitergefahren, habe weinend meinen Mann angerufen, der mich tröstete und meinte, dass er bald bei mir sei.

Als er mich später einholte, stieg auch der unheimliche Fahrer aus dem Auto aus. Es war eine Frau, die sofort anfing, uns übelst zu beschimpfen, wie bescheuert wir seien, und dass sie bereits die Polizei gerufen hätte. Kurz darauf kam auch schon die Polizei mit Martinshorn angefahren, stieg aus und klärte uns darüber auf, was das Problem war: ‚Wissen Sie eigentlich, was Sie hier machen?! Sie befinden sich auf einer früheren Bergrennstrecke. Es ist extrem gefährlich, weil auf dieser Strecke immer noch viele durch die Gegend rasen und Sie im Dunkeln übersehen hätten können.‘ Daraufhin hat uns die Polizei mit Blaulicht nach unten eskortiert.

Die Frau im Auto hatte sich also Sorgen um Sie gemacht?

Ja, aber es wäre schön gewesen, wenn Sie einfach nur kurz ausgestiegen wäre und mir gesagt hätte, wie gefährlich die Strecke ist. Wahrscheinlich dachte sie, ich sei irgendwie unzurechnungsfähig.

Wie hatten Sie eigentlich Ihre Route geplant?

Mein Mann und ich hatten die Strecke über komoot.de geplant – d.h. über Rennradstrecken, die ja asphaltiert sein müssen, was auch für den Rollstuhl ganz wichtig ist.

Wo haben Sie übernachtet?

In unserem Wohnmobil, und abends hat mein Mann mich mit Schmerzöl und Wärme verwöhnt. Ich hatte auch meine Heizdecke dabei, weil meine Beine tagsüber sehr kalt geworden sind. Zwischendurch hat mein Mann sich auch um das Essen gekümmert und sogar auf den Campingplätzen gegrillt. Auch jetzt, nachdem ich wieder zuhause bin, habe ich noch Nachwehen von der Tour, die von meiner Physio- und Ergotherapeutin behandelt werden. Aber so was macht man ja auch nur einmal im Leben, und einmal im Leben sollte man etwas Verrücktes tun.

Kati Jördel im E-Rollstuhl

Aktivistin Kati Jördel legte mit ihrem E-Rollstuhl unglaubliche 600 Kilometer in zehn Tagen zurück. (Foto: privat)

Zwischendurch haben Sie gesagt: ‚Ich liebe es sehr, es fühlt sich wie Joggen an und erdet den Kopf‘, aber Sie meinten später auch: ‚Es war ein Höllenritt!‘. Es gab ja offensichtlich noch mehr unangenehme Zwischenfälle?

Tatsächlich. In Stuttgart wollte ich eigentlich bis zum GAZI-Stadion hochfahren und mich mit einer Bekannten treffen, doch wegen des Großprojekts Stuttgart 21 gab es viele Streckensperrungen, musste ich Strecken zurückfahren und auf und ab fahren – die Straßen sind ja zum Teil sehr steil. Ungefähr fünf Kilometer vor‘m Ziel waren plötzlich meine Akkus leer, so dass mich mein Mann auf Umwegen mit dem Wohnmobil retten musste. Zwischendurch war ich auch auf einer Bundesstraße unterwegs, die ich unterschätzt hatte, weil sie extrem kurvig war und keinen Seitenstreifen hatte. Als ich in Ravensburg war, ist ein Auto mit erhöhter Geschwindigkeit an mir vorbeigerast. Hätte der Fahrer mich nicht gesehen, wäre ich heute nicht mehr hier.

Haben Sie zwischendurch mal ans Aufgeben gedacht?

Ja, einen Nachmittag hat es ziemlich geregnet. Da bin ich unter meinem Regencape so kalt geworden, dass ich schon gezweifelt habe. Hätte das Wetter insgesamt nicht so toll mitgespielt, hätte ich wahrscheinlich aufgegeben. Doch am nächsten Tag hat bereits wieder die Sonne geschienen.

„Meine Kinder und mein Mann geben mir Kraft“

Woher nehmen Sie Ihr Durchhaltevermögen?

Seit meiner Kindheit gibt es bei mir immer wieder irgendwelche Herausforderungen, die ich meistern musste. Doch die schwierigen Aufgaben, die ich auferlegt bekommen habe, haben mich auch gestärkt, weil ich rückblickend so viel geschafft habe. In schwierigen Zeiten habe ich festgestellt, dass man viel mehr schaffen kann, wenn man anfängt, umzudenken und an den schönen Sachen festzuhalten. Auch der Ehrgeiz meiner Kindern, die in ihrem Leben schon so oft kämpfen mussten, und mein Mann, der so viel für mich macht, geben mir ganz viel Kraft. Er und meine Kinder fanden auch meine Idee von meiner Tour richtig cool, und haben mich bestärkt. Mich haben auch viele andere Menschen und Freunde unterstützt, was mich sehr motiviert hat. Irgendwie hat mich in meinem Leben ganz viel Liebe getragen.

Wer Liebe gibt, bekommt auch ganz viel zurück.

Das stimmt – Lächeln und Liebe ist das einzige, was sich verdoppelt, wenn man sie teilt.

Würden Sie es wieder tun? Was hat Ihnen Ihre verrückte Aktion im Nachhinein gegeben?

Momentan bin ich noch ziemlich platt. Was die Tage nach der Tour an Aufregungen und all den Eindrücken, die ich erst mal sacken lassen musste, bei mir runtergefallen ist, hat sich ähnlich angefühlt wie zu der Zeit, als meine Tochter im Koma auf der Intensivstation lag und ich drei Tage am Stück wach geblieben bin. Man kommt so in einen Adrenalinstoß und in eine Funktion, dass man wahnsinnig über sich hinauswächst. Ich denke, ich würde es wieder tun, weil meine Rollstuhl-Reise eine Wahnsinns-Erfahrung gewesen ist. Ich würde dann aber sicher mehr durch die Natur als auf den Bundesstraßen fahren, weil es zum Teil doch recht gefährlich war. Aber mich hat die Tour auch extrem gestärkt. Ich habe noch einmal ein ganz anderes Bewusstsein zu mir selber bekommen. Ich habe mir meine Grenze gesetzt und sie bewältigt, was mich sehr berührt. Auch die Verbindung zu meinem Mann, und dass wir eigentlich Unmögliches möglich gemacht haben, ist etwas Wunderschönes. Ich habe auch gemerkt, mit wie wenig man klarkommen kann und dass es sich lohnt, wenn man wirklich einen Traum verwirklichen möchte, dafür zu kämpfen. Denn wenn man es nicht versucht, wird man auch nie erfahren, ob man es jemals geschafft hätte. Vielleicht mache ich damit ja auch anderen Mut, an sich zu glauben.

Sie sind auf jeden Fall ein Vorbild. Was würden Sie anderen raten, die eine ähnliche Grenzerfahrung planen?

Dass sie für ihre Träume auch wirklich kämpfen sollten, sich genau überlegen, ob und was sie wollen und gut dafür vorbereiten. Einfach mal aus seinem Trott auszubrechen und scheinbar Unmögliches wenigstens zu probieren.

Haben Sie bereits ein nächstes Projekt?

Ich habe immer ganz viele Projekte in meinem Köpfchen – aber auch kleinere. Im Moment bin ich tatsächlich am Regenerieren. Mit unserem Verein beteiligen wir uns gerade an einem tierischen Adventsfest, mit dem wir zum einen eine bedürftige Familie, zum anderen einen Pferdeschutzhof unterstützen möchten. Und im nächsten Jahr würde ich tatsächlich gerne noch eine inklusive Fahrradtour starten. Gemeinsam bewegen und was Schönes erleben.

Danke für das Gespräch und Alles Gute für Ihre weiteren Projekte!

(RP)

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