Am vergangenen Mittwoch war es endlich soweit: Der Koalitionsvertrag (Titel: „Mehr Fortschritt wagen“) zwischen SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen wurde knapp acht Wochen nach der Bundestagswahl offiziell vorgestellt. Auf 177 Seiten ist festgehalten, was die neue Regierung unter dem designierten Kanzler Olaf Scholz (SPD) in den kommenden vier Jahren umsetzen möchte. SPD und FDP wollen den Vertrag in Kürze auf den jeweiligen Parteitagen beschließen, die Grünen lassen erstmals in der Geschichte ihre rund 125.000 Mitglieder online abstimmen. Wenn alles nach Plan läuft, soll Scholz bereits am 6. Dezember 2021 zum Bundeskanzler gewählt werden.
Vor der Bundestagswahl hat ROLLINGPLANET die Parteien hinsichtlich ihrer Pläne im Rahmen der Inklusion gefragt – halten die Koalitionäre nun Wort? Im Wahlkampf kam das Thema „Behindertenpolitik“ aus Sicht vieler Betroffenen zu kurz, deshalb lohnt es sich, genauer hinzusehen, auf was sich SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen in den geheimen Koaltionsverhandlungen verständigt haben. Die gute Nachricht vorab: Die Ampel hat uns nicht vergessen und geht wichtige Probleme an, die die Union-geführte Große Koalition in den letzten Legislaturperioden nicht lösen konnte – oder lösen wollte. Hier sind die wichtigsten Auszüge im Detail, und was sie für uns bedeuten:
(Hier können Sie den vollständigen Koalitionsvertrag im Wortlaut lesen: Download als PDF)
Inklusion
Eine Aufstockung des Partizipationsfonds und Reformen sollen für mehr politische Teilhabe von Menschen mit Behinderung sorgen.
„Wir werden für mehr Teilhabe und politische Partizipation von Menschen mit Behinderungen an wichtigen Vorhaben auf Bundesebene sorgen. Die Mittel des Partizipationsfonds wollen wir erhöhen und verstetigen. Wir stärken die Inklusion im Sport, unter anderem das Projekt „InduS“ und inklusive Ligen. Wir unterstützen die Vorbereitung und Durchführung der Special Olympics World Games 2023 in Berlin. Wir prüfen eine Reform der Strukturen der Contergan-Stiftung, die den Betroffenen mehr Mitsprache ermöglicht.“
Der Behindertensport soll besonders gefördert, sowie Sport barrierefreier und inklusiv werden.
„Sport lebt vom Ehrenamt, stärkt den gesellschaftlichen Zusammenhalt und ist Mittler für demokratische Werte. Wir erarbeiten unter breiter Beteiligung einen „Entwicklungsplan Sport“ und weiten die Offensive für Investitionen in Sportstätten von Kommunen und Vereinen unter Beachtung von Nachhaltigkeit, Barrierefreiheit und Inklusion aus und berücksichtigen insbesondere Schwimmbäder stärker. Bei der Sportförderung berücksichtigen wir den besonderen Bedarf von Behindertensport.“
Barrierefreiheit
Mit der Überarbeitung des Behindertengleichstellungsgesetz und des Barrierefreiheitsstärkungsgesetz sollen alle öffentlichte Gebäude des Bundes barrierefrei werden.
„Wir wollen, dass Deutschland in allen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens, vor allem aber bei der Mobilität (u. a. bei der Deutschen Bahn), beim Wohnen, in der Gesundheit und im digitalen Bereich, barrierefrei wird. Wir setzen dafür das Bundesprogramm Barrierefreiheit ein. Dazu überarbeiten wir unter anderem das Behindertengleichstellungsgesetz und das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz sowie das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz. Wir setzen uns das Ziel, alle öffentlichen Gebäude des Bundes umfassend barrierefrei zu machen.“
Doch nicht nur das: Auch Privatanbieter von Gütern und Dienstleistungen sowie der ÖPNV müssen aktiv werden.
„Wir verpflichten in dieser Wahlperiode private Anbieter von Gütern und Dienstleistungen, innerhalb einer angemessenen Übergangsfrist zum Abbau von Barrieren oder, sofern dies nicht möglich oder zumutbar ist, zum Ergreifen angemessener Vorkehrungen. Wir legen entsprechende Förderprogramme auf und bauen die Beratungsarbeit der Bundesfachstelle Barrierefreiheit aus. Wir werden die Ausnahmemöglichkeiten des Personenbeförderungsgesetzes (ÖPNV) bis 2026 gänzlich abschaffen.“
Ein Sprachendienst soll Pressekonferenzen und öffentliche Veranstaltungen der Bundesministerien für alle verständlich machen:
„Darüber hinaus sorgen wir baldmöglichst dafür, dass Pressekonferenzen und öffentliche Veranstaltungen von Bundesministerien und nachgeordneten Behörden sowie Informationen zu Gesetzen und Verwaltungshandeln in Gebärdensprache übersetzt und untertitelt werden sowie die Angebote in leichter bzw. einfacher Sprache ausgeweitet werden. Dazu richten wir einen Sprachendienst in einem eigenen Bundeskompetenzzentrum Leichte Sprache/ Gebärdensprache ein.“
Leistungen und Pflege
Aus dem Schwerbehindertenausweis wird der digitale Teilhabeausweis, Bürokratie bei der Beantragung von Leistungen soll abgebaut werden.
„Im Rahmen des regelmäßigen Umtauschs des klassischen Schwerbehindertenausweises wird dieser auf den digitalen Teilhabeausweis umgestellt. Wir nehmen die Evaluation des Bundesteilhabegesetzes ernst und wollen, dass es auf allen staatlichen Ebenen und von allen Leistungserbringern konsequent und zügig umgesetzt wird. Übergangslösungen sollen beendet und bürokratische Hemmnisse abgebaut werden. Wir werden Hürden, die einer Etablierung und Nutzung des Persönlichen Budgets entgegenstehen oder z. B. das Wunsch- und Wahlrecht unzulässig einschränken, abbauen. Aufbauend auf der Evaluierung wollen wir weitere Schritte bei der Freistellung von Einkommen und Vermögen gehen.“
Maßnahmen gegen Versorgungslücken, Assistenzhundegesetz und Regelbedarfsstufen in besonderen Wohnformen stehen auch auf der Agenda:
„Wir werden das Verhältnis von Eingliederungshilfe und Pflege klären mit dem Ziel, dass für die betroffenen Menschen keine Lücken in der optimalen Versorgung entstehen. Wir werden ein Maßnahmenpaket schnüren, um im Sinne der Leistungsberechtigten zu schnelleren, unbürokratischeren und barrierefreien Antragsverfahren zu kommen. Wir werden ein Assistenzhundegesetz schaffen. Die im Teilhabestärkungsgesetz beschlossene Studie erweitern wir um den Aspekt der Kosteneinsparung. Zu ihrer Durchführung und Ausweitung legen wir ein Förderprogramm auf. Wir prüfen die Regelbedarfsstufe 1 in besonderen Wohnformen.“
Gute Nachrichten im Hinblick auf den Erhalt der freien Wahl des Wohnorts bei intensivpflegerischen Versorgung (GKV-IPReG):
„Bei der intensivpflegerischen Versorgung muss die freie Wahl des Wohnorts erhalten bleiben. Das Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz (GKV-IPReG) soll darauf hin evaluiert und nötigenfalls nachgesteuert werden. Wir gestalten eine rechtssichere Grundlage für die 24-Stunden-Betreuung im familiären Bereich.“
Arbeit und Karriere
Arbeitgeber, die keine Schwerbehinderten beschäftigten, müssen zukünftig tiefer in die Tasche greifen.
„Wir legen den Schwerpunkt auf die Arbeitsmarktintegration von Menschen mit Behinderungen. Wir werden die neu geschaffenen einheitlichen Ansprechstellen für Arbeitgeber weiterentwickeln und eine vierte Stufe der Ausgleichsabgabe für jene einführen, die trotz Beschäftigungspflicht keinen Menschen mit Behinderungen beschäftigen. Vollständig an das Integrationsamt übermittelte Anträge gelten nach sechs Wochen ohne Bescheid als genehmigt (Genehmigungsfiktion). Wir werden das Budget für Arbeit und das Budget für Ausbildung weiter stärken und ausbauen. Die Mittel aus der Ausgleichsabgabe wollen wir vollständig zur Unterstützung und Förderung der Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einsetzen. Wir wollen alle unsere Förderstrukturen darauf ausrichten, dass Menschen so lange und inklusiv wie möglich am Arbeitsleben teilhaben. Das Betriebliche Eingliederungsmanagement wollen wir als Instrument auf Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite stärker etablieren mit dem Ziel, es nach einheitlichen Qualitätsstandards flächendeckend verbindlich zu machen (Beispiel „Hamburger Modell“). Dabei setzen wir auch auf die Expertise der Schwerbehindertenvertrauenspersonen.“
Das Entgeltsystem von Behindertenwerkstätten soll reformiert und Inklusionsunternehmen gefördert werden.
„Die Angebote von Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) werden wir stärker auf die Integration sowie die Begleitung von Beschäftigungsverhältnissen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt ausrichten. Wir werden das Beteiligungsvorhaben zur Entwicklung eines transparenten, nachhaltigen und zukunftsfähigen Entgeltsystems in den WfbM und deren Perspektiven auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt fortsetzen und die Erkenntnisse umsetzen. Darüber hinaus entwickeln wir die Teilhabeangebote auch für diejenigen weiter, deren Ziel nicht oder nicht nur die Teilhabe am Arbeitsleben ist. Wir werden Inklusionsunternehmen stärken, auch durch formale Privilegierung im Umsatzsteuergesetz.“
(RP)

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