Seit ihrem Auftritt beim Eurovision Song Contest 2002 in Talinn (Estland) kennen viele Corinna May (51). Doch sie ist nicht nur eine beeindruckende Sängerin, sondern auch abseits der Bühne eine starke Persönlichkeit. Gemeinsam mit ihrem Mann Claus setzt sich May für die Rechte von sehbehinderten Menschen ein und scheut dabei keine Gerichtsinstanz.
„Wählen ist eine private Angelegenheit“
Frau May, wie geht es Ihnen?
Wir Künstler haben gerade viel Zeit, dürfen ja im Moment nicht arbeiten und sind auf Eis gelegt. Wegen Corona wurde einiges, unter anderem meine geplante Tournee, abgesagt. Uns Musikern geht es natürlich besser, wenn wir Musik machen und live auftreten können. Gesundheitlich gehts mir dafür gut. Da kann ich mich nicht beklagen.
Im vergangenen Jahr haben Sie mit einer Klage vor dem Bremer Staatsgerichtshof Schlagzeilen gemacht. Dabei ging es um Ihre Probleme, sich an der Bürgerschaftswahl 2019 zu beteiligen, und sie klagen an, dass blinde Menschen nicht uneingeschränkt wählen können, kritisieren die Gestaltung der Wahlbenachrichtigung, Ausstattung der Wahllokale, inkompetente Wahlhelfer im Umgang mit sehbehinderten Menschen und fordern bessere Bedingungen. Mögen Sie mir etwas darüber erzählen?
Es ist halt schwierig! In den Wahllokalen gab es keine entsprechenden Schablonen, und am schlimmsten fand ich, dass mir dort gesagt wurde, dass mein Mann nicht mit in die Wahlkabine dürfe, stattdessen ein Wahlhelfer mitkommen müsse. Da Wählen eine private Angelegenheit ist, habe ich geantwortet: Das ist keine Vertrauensperson und kommt gar nicht infrage. Nachdem mein Einspruch leider zurückgewiesen wurde, liegt die gleiche Klage für die Europawahl jetzt auch noch beim Verfassungsgericht.

Corinna May im Verhandlungssaal des Staatsgerichtshofs in Bremen. (Foto: Michael Bahlo/dpa)
Schön, dass Sie sich so engagieren!
Danke, uns ist es wichtig, die Aufmerksamkeit auf dieses Thema zu lenken. Ein Sehender, der nicht betroffen ist, beschäftigt sich natürlich nicht mit dem Thema. Deshalb versuchen wir, den Fokus auch auf blinde Menschen zu legen.
Das wissen die meisten nicht. Ich kann mich zum Beispiel in meinem Wohnort Bremen beim Bürgeramt nicht eigenständig ummelden. Weil ich die Daten nicht kontrollieren kann, denn viele digitale Seiten sind nicht barrierefrei. Ich habe letztens schon spaßeshalber gesagt: Ihr lasst uns jetzt nicht Musik machen. Dafür habe ich jetzt mehr Zeit, mich mit dem Thema Barrierefreiheit auseinanderzusetzen und Schwächen aufzudecken. Das Schöne ist, dass mich mein Mann, der die Recherchearbeit macht und auch mehr juristisches Wissen als ich hat, dabei sehr unterstützt. Allein könnte ich das gar nicht.
Unsere Familiengrabstätte in Ritterhude ist zum Beispiel überhaupt nicht barrierefrei und mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht mal zu erreichen. Insofern ist es für ältere Menschen, die kein Auto haben, schwierig, zu den Grabstätten ihrer Verwandten zu kommen. Bei uns läuft man vom Bus noch 20 Minuten zum Friedhof. Und jemand, der gehbehindert und nur eingeschränkt mit dem Rollator unterwegs ist, noch dazu über Kopfsteinpflaster gehen muss – das geht überhaupt nicht!
„Als Künstlerin habe ich nicht das Bestreben, in die Politik zu gehen“
Können Sie sich vorstellen, sich politisch noch mehr zu engagieren?
Da wir nicht parteigebunden sind, sehe ich unser Engagement nicht als politisch. Wir möchten einfach nur auf Missstände aufmerksam machen und im Notfall dagegen Klage einreichen. Als Künstlerin habe ich jedoch nicht das Bestreben, in die Politik zu gehen. Stattdessen bieten wir bei uns in Bremen Lösungen und Hilfe an – etwa was Umbauten betrifft, weil vieles fehlgeplant wurde. Viele Nicht-Betroffene wissen ja gar nicht, wie viele Fehlplanungen es gibt, die uns Behinderte aufhalten.
Sie setzen sich allgemein auch für Sehbehinderte und deren Schwierigkeiten in Corona- Zeiten ein – wie etwa bei alltäglichen Dingen wie Einkaufen. Welche Probleme sind durch die Pandemie für Sehbehinderte hinzugekommen?
Die Schwierigkeiten sind zum Beispiel, dass mit Maske der Geruchssinn völlig eingeschränkt ist, daher bin ich auch von der Maskenpflicht befreit. Zweitens ist es problematisch, Abstand zu halten. Wie sollen blinde Menschen diesen Abstand einschätzen? Und drittens ist der Tastsinn eingeschränkt, weil man so wenig wie möglich berühren soll.
Mein Mann und ich haben das Glück, dass wir noch relativ ländlich leben und das Personal in unseren Supermärkten schon sehr sensibilisiert ist. In einem Supermarkt gibt es sogar eine Einkaufshilfe für Behinderte. Das ist natürlich toll. Schwierig wird es, wenn wir irgendwo anders sind. Es gab sogar schon den Fall, dass wir abgewiesen wurden und uns gesagt wurde: Ihr kommt hier nicht rein! Sich immer auf sein Hausrecht zu berufen, funktioniert aber nicht so einfach, wie es sich manche vorstellen.
Unglaublich! Das stelle ich mir ziemlich kräftezehrend und frustrierend vor.
Man gewöhnt sich irgendwann daran, und, wie gesagt, bei uns ist es noch relativ einfach. Nur wenn wir aus unserer Wohlfühlzone rauskommen, wird es schwierig. Dazu muss man sagen: Mein Mann ist selbst seit einem schweren Verkehrsunfall 2012 schwerbehindert, weil ihm seitdem eine Lunge fehlt. Insofern sind wir doppelt sensibilisiert.
„Wenn jemand über meinen Stock stolpert und mich dann anschreit, finde ich das ziemlich ärgerlich“
Sehen Sie dennoch auch gesellschaftliche Verbesserungen im Bereich „Diversity“?
Eher das Gegenteil. Viele wissen nicht mal mehr, was der Weiße Stock eigentlich ist. Das wäre mal wieder ein sinnvoller Bildungsauftrag. Viele Kinder, auch einige Erwachsene, kennen die Bedeutung eines Blindenstocks oder der gelben Armbinde nicht mehr. Ich habe das Gefühl, dass die Kenntnis über solche Dinge rückläufig ist. Wenn jemand über meinen Stock stolpert und mich dann anschreit, finde ich das ziemlich ärgerlich.
Wahrscheinlich macht sich die zunehmende Rücksichts- und Respektlosigkeit in unserer Gesellschaft in diesem Fall noch stärker bemerkbar. Leider! Wenn ich als Sängerin unterwegs war, bin ich allerdings immer akzeptiert worden und meine Blindheit war nie ein Thema. Unter Kollegen ist man auf Augenhöhe. Ich möchte auch als Sängerin nicht nach meiner Behinderung beurteilt werden, sondern nach dem, was ich kann. Diesbezüglich, denke ich, habe ich mich auch ganz gut etabliert. Aber als Behinderte setze ich mich gerne auch für andere Betroffene ein. Wie Sie vielleicht wissen, ist das Thema Maske auch für Gehörlose ein Problem, weil sie nicht mehr von den Lippen ablesen können.
Ihnen ist Selbständigkeit sehr wichtig und Sie bitten nicht gerne um Hilfe. Momentan sind Sie offensichtlich jedoch noch stärker auf die Unterstützung Ihres Mannes angewiesen, der sagt: „Ich bin das Radar-System für Corinna.“ Wie empfinden Sie das?
Um Hilfe zu bitten ist ja eigentlich keine Schande. Aber ich versuche im ersten Schritt immer, dass ich etwas allein hinkriege. Ich probiere auch gerne viel aus, und wenn ich es dann nicht allein hinbekomme, muss ich mir eben eingestehen, dass ich Hilfe brauche.
„Normalerweise sind wir viel mit dem Wohnmobil unterwegs“
Wie ergänzen Sie sich mit Ihrem Mann Claus?
Super! Er ist halt – gerade in Corona-Zeiten – mein Radar. Durch meinen Mann kann ich auch immer ganz gut den Abstand halten.
Was sind Ihre gemeinsamen Freizeitaktivitäten und Hobbys?
Im Moment kann man ja nicht so viel machen. Normalerweise sind wir viel mit dem Wohnmobil unterwegs. Aber im Moment kann man ja nirgendwo hinfahren oder den Wagen abstellen. Ansonsten machen wir natürlich Musik und sind oft in unserem Probenraum, lesen und essen sehr gerne. Mein Mann kocht auch sehr gut. Freunde und Kollegen dürfen wir ja momentan leider nur eingeschränkt treffen.
Stimmt es, dass Sie Ihren Mann, ebenfalls Musiker, 2013 ursprünglich über die Musik kennengelernt haben?
Nein, wir kennen uns bereits seit Mitte der 90er-Jahre, auch weil er eine Firma für Beschallungstechnik hat und wir uns häufig auf Galas oder bei Freunden trafen. Die Bremer Musikerszene ist auch nicht so immens, sodass man sich hier leicht über den Weg laufen kann. Offiziell zusammen sind wir seit 2013, unser gemeinsames Musikprojekt „OneKiss“ entstand 2014.

Corinna May bei einem Auftritt von „OneKiss“ (Foto: privat)
Wann genau hat es gefunkt?
Im August 2013. Auch Claus‘ Unfall im Jahr 2012 hat uns nähergebracht. Er wollte damals seinen Job aufgeben und sein ganzes Equipment verkaufen. Ich habe es ihm ausgeredet und gesagt: Du wirst todunglücklich sein, wenn du mit der Musik aufhörst. Ich habe gerade eine Band am Start, und wir kommen zu dir in den Probenraum, damit dir nicht langweilig wird. So wurde allmählich aus Freundschaft Liebe.
Wie schön! Und 2019 folgte die Traumhochzeit. Planen Sie eine Feier zu Ihrem Hochzeitstag am 7. Juni?
Nein, die Hochzeit ist ja noch nicht so lange her und war ziemlich groß. Vom Aufwand haben wir es damals ziemlich übertrieben – und es war so richtig schön retro. Wir haben unsere Einladung barrierefrei auf einer Audio-CD, die aussah wie eine Schallplatte, verschickt und mit 130 Leuten und sieben Live-Acts gefeiert. Unser Motto lautete „Rockabilly“, und wir hatten auch einen Dresscode, die Damen trugen alle Petticoats. Das Hochzeitsauto war ein alter Cadillac, und wir hatten eine tolle Location mit Saal und Bühne beim Griechen.
„Wir haben gerade meine neue Single fertiggestellt“
Das hört sich toll an! Woran arbeiten Sie gerade?
Wir haben gerade meine nächste Single fertiggestellt. Es ist internationaler Pop, ich singe wieder englisch und man darf gespannt sein. Daneben arbeiten wir noch an einem anderen großen Projekt, worüber ich aber noch nicht sprechen kann.
Gesang war bereits in Ihrer Kindheit eine große Leidenschaft. Ursprünglich haben Sie aber eine Ausbildung als Masseurin gemacht, richtig?
Ja, auch zum Vorteil meines Mannes. Dafür hat er das juristische Know-how.
Haben Sie noch Kontakt zu Ralph Siegel?
Ja, wir haben letztes Jahr gemeinsam in Füssen seinen 75. Geburtstag gefeiert und halten auch weiterhin Kontakt. Momentan ist er allerdings sehr mit seinem neuen Musical „Zeppelin“ beschäftigt, wovon wir schon Auszüge gesehen haben und sehr begeistert sind.
Sie haben im letzten Oktober Ihren 50. Geburtstag gefeiert. Wie würden Sie Ihr momentanes Lebensgefühl in der sogenannten „Mitte des Lebens“ beschreiben?
Nicht großartig anders als bisher. Ich glaube, dass wir Musiker im Kopf generell jung bleiben und immer offen für Neues sind.
Wie erhalten Sie sich Ihren Optimismus?
Im Moment stoße ich tatsächlich an meine Grenzen. Aber ich glaube, das geht nicht nur mir so. Es bewegt sich ja gerade nichts und wir Musiker wissen nicht mehr, wann wir wieder richtig arbeiten und auftreten können. Die letzten Jahre waren wir live das ganze Jahr unterwegs, jetzt können wir nur im Studio arbeiten. Das ist natürlich teilweise frustrierend und man muss sich ständig irgendwie motivieren.
Schön, wenn man in solchen Lebenslagen einen unterstützenden Partner an seiner Seite hat. Wofür setzen Sie sich momentan besonders ein?
Wir werden demnächst eine Patenschaft für die Inclousiv-Maßnahmen einer Schaukel für Rollstuhlfahrer übernehmen. Ich bin jetzt 50 und liebe immer noch schaukeln! Das Projekt ist natürlich sehr aufwändig und kostenintensiv.
Was ist Ihr größter Zukunftswunsch?
Endlich wieder auf der Bühne zu stehen – live vor Publikum singen und mit den Menschen kommunizieren zu können.
Vielen Dank für das Interview.
Beim deutschen ESC-Vorentscheid 1999 wurde May nachträglich disqualifiziert, da es sich bei ihrem Lied „Hör den Kindern einfach zu“ um ein Plagiat handelte. Beim dritten Versuch errang sie schließlich das Ticket für den Eurovision Song Contest 2002 und erzielte in der estnischen Hauptstadt Talinn, trotz guten Kritiken, Platz 21 für Deutschland.
Nach Veröffentlichung diverser Singles sowie einem Engagement für den Disney-Film „Die Kühe sind los“ gründete sie mit ihrem späteren Ehemann Claus 2013 das Musikprojekt „OneKiss“ und absolviert damit bis heute Live-Auftritte. May lebt mit ihrem Partner in Bremen.
(RP)

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