Über das Schreiben einer Klinik und des Landratsamts in Tuttlingen, in dem Pflege- und Behinderteneinrichtungen aufgefordert werden, „in dieser schwierigen Zeit Krankenhauseinweisungen besonders sorgfältig zu bedenken“, berichtete kürzlich die Zeitung WELT. Weiter heißt es in dem Schreiben: „Lassen Sie uns gemeinsam dafür Sorge tragen, dass die Behandlungsmöglichkeiten im akutstationären Bereich tatsächlich den Menschen – auch denen unter Ihren Bewohnerinnen und Bewohnern – zur Verfügung gestellt werden, die davon profitieren können.“
Der Landkreis Tuttlingen in Baden-Württemberg zählt aktuell eine Inzidenz von knapp 700, 35 Corona-Patienten sind hospitalisiert, sieben davon intensivpflichtig.
„Unsägliche Vorstellung“ für Eltern
„Wir sind fassungslos angesichts der Handlungsaufforderung, aber auch angesichts der Diktion, in dem zitierten Schreiben“, berichtet Gerold Abrahamczik, Sprecher des Angehörigenbeirates im CBP. Die einseitige Einteilung von Patienten, die von einer Behandlung profitieren können gegenüber denen, die dies – nach wessen Einschätzung eigentlich – nicht können verbunden mit dem Aufruf, dass Krankenhaus und die Notfallmedizin nicht zu behelligen, einzig bei alten und behinderten Menschen wecke unsägliche Assoziationen zur Einteilung in wertes und unwertes Leben aus den dunkelsten Kapiteln unserer Geschichte, so Abrahamczik.
Das Schreiben wecke so existenzielle Ängste bei Menschen mit Behinderung und ihren Angehörigen, dass sie im Falle einer schwerwiegenden Erkrankung zugunsten nicht behinderter und/oder jüngerer Menschen nicht intensivmedizinisch behandelt oder erst gar nicht ins Krankenhaus aufgenommen werden.
„Wenn man sich sein Leben lang um sein behindertes Kind kümmert und sorgt, dabei viele Entbehrungen und Einschränkungen gerne hinnimmt und klaglos erträgt, über die Gesundheit wacht und oft auch bangt, ist das eine unsägliche Vorstellung“, so Abrahamczik.
Empfehlung deckt sich mit DIVI
Das Schreiben deckt sich mit einer Empfehlung der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), die Menschen mit Behinderung ebenfalls nicht angemessen berücksichtige. Auch DIVI empfiehle bei nicht für alle Patienten ausreichenden Ressourcen eine Einschätzung der Erfolgsaussichten einer Intensivtherapie im Hinblick auf ein realistisch erreichbares, patientenzentriertes Therapieziel im Vergleich zur Erfolgsaussicht der Intensivtherapie für andere Patienten.
Menschen mit Behinderung sehen sich hier diskriminiert und in ihrem gleichberechtigten Zugang zu medizinischen Leistungen benachteiligt, weshalb eine entsprechende Klage vor dem Bundesverfassungsgericht anhängig ist.
„Wir hoffen sehr, dass das Gericht jetzt, wo eine Verschärfung der pandemischen Lage droht, zeitnah entscheidet, damit Menschen mit Behinderung einen gleichberechtigten Zugang zu medizinischen Leistungen gesichert haben“,
so Abrahamczik. Zugleich fordere der Angehörigenbeirat die neue Bundesregierung auf, der UN-Behindertenrechtskonvention auch bei der gesundheitlichen Versorgung Geltung zu verschaffen, die Benachteiligung von Menschen mit Behinderung gerade in den Zeiten, in denen der Schutz der Gesellschaft für Menschen mit Behinderung besonders gefordert ist, zu unterbinden, für einen gleichberechtigten Zugang zu intensivmedizinischen Leistungen zu sorgen und insbesondere die Triage von Menschen mit Behinderung gesetzlich auszuschließen.
(RP/PM)

Penny
22. Dezember 2021 um 11:53
“Das Schreiben wecke so existenzielle Ängste bei Menschen mit Behinderung und ihren Angehörigen, dass sie im Falle einer schwerwiegenden Erkrankung zugunsten nicht behinderter und/oder jüngerer Menschen nicht intensivmedizinisch behandelt oder erst gar nicht ins Krankenhaus aufgenommen werden.”
Regt diese Formulierung eigentlich nur mich auf?
Das klingt schon wieder so, als würden sich behinderte Menschen die Aufforderung zur Triage nur einbilden, anstatt dass es ein Fakt wäre!