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Blind reisen: „Du siehst das doch eh nicht!“

Auch wenn die Corona-Einschränkungen derzeit den Urlaub erschweren, grundsätzlich verreise ich sehr gern. „Wieso denn das? Du siehst das doch eh nicht?“, haben tatsächlich schon Menschen so oder ähnlich zu mir gesagt. Von ROLLINGPLANET-Kolumnist Heiko Kunert

ROLLINGPLANET-Kolumnist Heiko Kunert sitzt vor einem PC und arbeitet.
ROLLINGPLANET-Kolumnist Heiko Kunert. (Foto: privat)
Unsere Kolumnisten schreiben unabhängig von ROLLINGPLANET. Ihre Meinung kann, muss aber nicht die der Redaktion sein.

Das stimmt. Das Argument ist aber natürlich dennoch großer Nonsens. Zugespitzt läuft die Logik dieser unbedachten Äußerung darauf hinaus, dass ich als blinder Mensch mich eigentlich gleich in meiner Wohnung einsperren kann – denn ich sehe die Welt ja eh nicht.

Urlaub mit allen Sinnen

Dabei hat die Welt auch für die anderen Sinne genügend Wunderbares zu bieten: Das wilde Wellenbrechen der Nordsee im Herbst, das sanfte Rauschen der Ostsee im Sommer, Die Frühlingssonne Andalusiens auf der Haut, ein Bad in einer heißen Quelle auf den Azoren im Januar, dieser immergrüne Duft nach Wiese, Regen und Torf in Irland, das Wilde, kosmopolitische Tempo Londons, das Brummen der Boote und Plätschern der Kanäle in Venedig. Das sind nur wenige Beispiele für Dinge, die ich im Urlaub genieße.

Daneben gibt es immer mal wieder auch barrierefreie Angebote für blinde Touristen – wie angepasste Führungen mit der Möglichkeit, z. B. in Museen Ausstellungsstücke zu ertasten, Tastmodelle, Audioguides oder Infomaterial in Blindenschrift. Allerdings begegnen mir solche Dinge meist eher zufällig, denn diese Angebote sind oft gar nicht so leicht vorab übers Internet zu recherchieren. Leider ist auch im Tourismus Barrierefreiheit – trotz aller positiver Entwicklungen – noch immer kein Standard.

Allerdings muss ich auch zugeben, dass ich nicht so der Sightseeing-Fan bin. Ich lasse mich gern treiben, entdecke zusammen mit meiner Frau spontan die Umgebung unseres jeweiligen Reiseziels. Und wir genießen Ruhe und Frischluft in der Natur. Hier könnte meine Behinderung tatsächlich eine gewisse Rolle spielen. Sich tagtäglich als blinder Mensch durch eine Großstadt wie Hamburg zu bewegen – mit all ihren Menschen, der Hektik, den Autos, E-Rollern, Bussen und U-Bahnen – erfordert viel Konzentration und ist auch immer mit Anstrengung und Anspannung verbunden. Da ist ein Dünenspaziergang auf Amrum oder eine Wanderung auf den Bergen Südtirols ein sehr erholsames Kontrastprogramm.

Ergänzende Eindrücke

Wie ich bereits schrieb, verreise ich in der Regel mit meiner Frau. Häufig tauschen wir uns bei einem Spaziergang in fremder Umgebung darüber aus, was sie mit den Augen wahrnimmt und was ich mit den Ohren. Häufig sind unsere Eindrücke ähnlich, manchmal aber auch nicht. Dann sage ich zum Beispiel: „Ist das schön ruhig hier!“ und sie erwidert: „Eigentlich ist es hier gerade ziemlich hässlich, weil hinter der Wiese lauter Industriegebäude stehen.“

So ein Austausch zwischen blinden und sehenden Reisenden kann für beide Seiten bereichernd sein. Dies haben spezielle Reiseanbieter erkannt, die sich sowohl an blinde als auch an sehende Reisende wenden. Diese werden dann zu Tandems zusammengestellt und verbringen einen gemeinsamen Urlaub, in der Regel in Form einer Gruppenreise.

Ob privat oder bei einem barrierefreien Reiseanbieter, Urlaub ist für viele blinde Menschen ebenso eine Bereicherung wie für sehende Menschen. Dass dies im Jahr 2021 manchen sehenden Mitbürger*innen immer noch gesagt werden muss, ist eigentlich auch schon wieder eine eigene ROLLINGPLANET-Kolumne wert.

Heiko Kunert (45) ist Geschäftsführer des Hamburger Blinden- und Sehbehindertenvereins. Er ist seit seinem sieben Lebensjahr blind, engagiert sich für eine inklusive und barrierefreie Gesellschaft und scheibt auf heikos.blog über Blindheit und das Leben.

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