Was für viele auf Veranstaltungen ganz normal ist, ist für Menschen mit Behinderung meist mit großen Hindernissen verbunden. Auf Festivals fehlen Rampen, Clubs sind für Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer nicht zugänglich und es gibt keine rollstuhlgerechten Toiletten bei Konzertveranstaltungen. Das möchte die deutschlandweit einzigartige Agentur „Wir Kümmern Uns“ ändern – und setzt sich nach dem Prinzip „Inklusion auf, vor und hinter der Bühne“ für ganzheitliche Ansätze der inklusiven Kulturarbeit ein.
„Etwas bewegen, statt sich mit dem Worst Case zu arrangieren“
Erzählen Sie mir vorab etwas über Ihre Person und Tätigkeit?
Ich lebe in Hamburg, bin freiberuflicher Musiker, also auch auf den Bühnen in Deutschland unterwegs und arbeite neben meiner Tätigkeit als Sänger und Gitarrist der Alternativ Rock-Band Fheels als Gesangscoach und daneben als Teamleiter für die „Initiative Barrierefrei Feiern“. Ich selbst bin seit meinem 17. Lebensjahr aufgrund eines Snowboardunfalls querschnittgelähmt. Das heißt, ich spreche aus eigener Erfahrung, weil ich weiß, was es für uns im Alltag mit Blick auf Kultur bedeutet, behindert zu sein. In unserer Initiative sind generell alle kulturell interessiert. Insofern ist natürlich auch die Motivation groß, etwas zu bewegen, statt sich mit dem Worst Case zu arrangieren. Deshalb haben wir alle auch eine super Verbindung. Mein Vorteil ist sicher, dass ich auch die Perspektive von der Bühne aus kenne. Ich weiß, wie es ist, wenn man mal wieder im Club auf die Bühne getragen werden muss, weil diese nicht barrierefrei ist.

Felix Brückner ist Teamleiter bei der „initiative barrierefrei feiern“. (Foto: Itje Kleinert)
Aus Zuschauersicht ist die Problematik: Wie komme ich überhaupt in den Club rein? Wie ist die Sichtsituation? Wie ist die Toilettensituation und vieles mehr. Deshalb haben wir als Initiative auch über die Jahre daran gearbeitet, Maßnahmen zu entwickeln, die Veranstaltungen barrierefreier machen. Natürlich auch über den Menschen im Rollstuhl hinaus. Es gibt ja ganz viele Formen von Behinderungen, die stärker berücksichtigt werden sollten. Deshalb ist es auch gut, dass wir im Team kleinwüchsige, blinde oder Menschen mit chronischen Erkrankungen dabei haben und deren Perspektiven mit in die Workshops nehmen können. Wie zum Beispiel, dass blinde Menschen überall ihren Assistenzhund mitnehmen können.
Wir leben im Jahre 2022, in einem der am weitesten entwickelten Industrieländer dieser Welt. Man muss sich einfach vor Augen führen, dass da draußen ganz wenig barrierefrei ist, und dass wir immer noch über Konzerthäuser diskutieren müssen, die für mehrere Tausend Leute Kapazität, aber nicht einmal eine Behindertentoilette haben. Da liegt noch ganz viel im Argen, worauf wir aufmerksam machen und Veranstaltende an die Hand nehmen wollen, um in Zukunft in die richtige Richtung zu gehen.
„Menschen mit Behinderung werden nicht als autonome Menschen wahrgenommen“
Kommen wir zu Ihrer Beratungsagentur… Wie kam es dazu?
Vorab zur Erklärung: Die deutschlandweite „initiative barrierefrei feiern“ (IBF), mit Hauptsitz in Nürnberg, ist ein Kollektiv von Expert*innen in eigener Sache, also Menschen mit Behinderung, die beratend für deutschlandweite Organisationen und Veranstaltungen tätig sind. „Wir Kümmern Uns“ ist die Agentur und der administrative Arm von IBF. Meine Chefin Elnaz Amiraslani, die auch eine Konzert- und Bookingagentur hat, hat ursprünglich durch die Begegnung mit einer Band, die aus zwei Künstler*innen mit Behinderung besteht, festgestellt, als es darum ging, eine Tour für sie zu planen, dass die meisten Häuser wenig barrierefrei sind.
Also hat sie einen großen Bedarf erkannt, mehr zu tun, und angefangen, sich zu barrierefreier Veranstaltungsplanung weiterzubilden. Dazu hat sie sich Expert*innen, also Menschen mit Behinderung, ins Team geholt, die aktiv in die Veranstaltungsplanung involviert sind. Irgendwann war das Team so groß, dass daraus die „initiative barrierefrei feiern“ entstand.
Ihre Kollegin Kim Moquenco spricht von Diskriminierung von behinderten Menschen im Nachtleben… Sie auch?
Allein was die Toilettensituation betrifft, ist es oft schwierig für Menschen mit Behinderung. Wenn keine Toiletten vorhanden sind, ist der Behinderte schon grundsätzlich strukturell diskriminiert. Was darüber hinaus geht, ist das Bild von Menschen mit Behinderung in den Köpfen von nichtbehinderten Menschen – was, meiner Meinung nach, noch sehr altertümlich ist. Manche zeigen Mitleidsreaktionen, andere meinen, sie müssten besonderen Respekt bekunden. Und das zeigt extrem auf, dass wir immer noch nicht da sind, dass Menschen mit Behinderung als autonome, selbstbestimmte und selbstbewusste Menschen wahrgenommen werden. Das ist auch eine Sache, die uns alle betrifft, und mit der wir uns immer wieder auseinandergesetzt sehen, wenn wir unterwegs sind. Auch gar nicht nur kulturell betrachtet, sondern grundsätzlich.
Das Bild von Menschen mit Behinderung ist noch mehr in dieser Fürsorge hängengeblieben, obwohl wir uns natürlich wünschen, dass wir normaler Bestandteil der Gesellschaft sind. Um zu einer Normalität zu kommen, brauchen wir deshalb grundsätzlich erstmal Barrierefreiheit. Solange diese nicht gegeben ist, haben wir gar nicht die Möglichkeit, selbstbestimmt, autonom und „normal“ das zu genießen, was Menschen ohne Behinderung genießen können.
„Es geht bei Barrierefreiheit viel um Kommunikation“
Kommen wir zu den einzelnen Aufgaben der Agentur: Punkt 1: „inklusive Kulturarbeit zu fördern, insbesondere hinsichtlich der räumlichen und kommunikativen Zugänglichkeit zu Kulturangeboten für Menschen mit Behinderung und der Beteiligung von Menschen mit Behinderung bei der Planung und Umsetzung barrierefreier Veranstaltungen“.
Wichtig ist an dieser Stelle, noch einmal zu unterstreichen, dass es nicht nur um Rampen oder breitere Durchgänge geht. Damit meine ich, dass man über diese rein physische, infrastrukturelle Barrierefreiheit hinausgehend auch darüber nachdenkt: Wie sehen meine Kommunikationskanäle aus? Wie ist meine Website programmiert? Ist der Inhalt für Menschen mit Sehbehinderung überhaupt zugänglich? Ist das Screenreader-kompatibel? Sprechen wir eine leicht verständliche Sprache, die Menschen mit Lern- und Leseschwierigkeiten verstehen können? Oder nutzen wir Bilder, Alternativtexte? Es geht bei Barrierefreiheit eben auch ganz viel um Kommunikation und um „Barrierefreiheit in den Köpfen der Menschen“.
Punkt 2: „die kulturelle Teilhabe für Menschen mit Behinderung und damit die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), insbesondere Artikel 9 (Zugänglichkeit) und Artikel 30 der UN-BRK (Teilhabe am kulturellen Leben), zu fördern.“ Ist diese Umsetzung nach wie vor ein Problem?
Das große Problem an der UN-BRK ist, dass sie schwer zu sanktionieren ist und oftmals nur über Sanktionen ein Nachkommen der Verpflichtungen erwirkt werden kann. Es gibt immer wieder länderspezifische Aktionspläne, aber an vielen Punkten wird noch nicht ausreichend daran gearbeitet beziehungsweise sind keine Fortschritte erzielt worden, die wir uns wünschen würden.
Punkt 3: „das Bewusstsein und Verständnis für die Belange von Menschen mit Behinderung zu fördern, insbesondere bei Kulturanbieter*innen, Medien, Politik und Gesellschaft.“
In kulturellen Diskursen um Diversität und soziale Nachhaltigkeit spielt das Thema Inklusion aktuell häufig noch eine untergeordnete Rolle. Das Ziel der Unternehmerinnen ist es deshalb, durch Aufklärungsarbeit zu gesetzlich verankerten Mindestanforderungen die kulturelle Teilhabe von Menschen mit Behinderung zur Selbstverständlichkeit kulturpolitischer Entscheidungen zu machen.
Zuletzt ein ganz wichtiger Punkt 4: „Beschäftigungsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen in der Kulturarbeit zu fördern“.
„Wir Kümmern Uns“ macht den deutschen Veranstaltungsmarkt für Menschen mit Behinderung besser und direkter zugänglich. Und wie gesagt: Als erste und einzige Agentur ihrer Art in Deutschland umfasst unser Team dazu mehrheitlich Kolleg*innen mit Behinderung, die Veranstaltende zielgerichtet für rundum barrierefreie Festivals, Konzerte und Kulturevents coachen und fachkundig begleiten.

Feiern mit Rollstuhl oder Krücken: Die „initiative barrierefrei feiern“ setzt sich für Inklusion auf Musikfestivals ein. (Foto: Erik Schütz/Goodbyeproductions)
„Interessenten haben Nachholbedarf erkannt“
Wie kann man sich die Zusammenarbeit vorstellen?
Wir haben natürlich Team-Meetings, wo wir uns unterhalten, darüber austauschen, was passiert ist, wo wir vielleicht Probleme erkannt haben und was unser Team momentan allgemein beschäftigt. Und natürlich geht es auch immer darum: Wie können wir uns weiterbilden, um einfach noch ein umfassenderes Bild über die Bedürfnisse und die alltäglichen Herausforderungen von Menschen mit Behinderung mit in die Workshops nehmen zu können.
Wir fangen meistens in einem Vorgespräch mit der Sensibilisierungsarbeit an, bevor wir überlegen, wie man Veranstaltende an Bord holen und sie schulen kann. Das heißt, wir besprechen grundsätzlich erstmal: Was sind die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung? Und dann involvieren wir unser Team regelmäßig in die unterschiedlichsten Projekte – als Berater*innen bei Ortsbegehungen, bei der Entwicklung von Strategien oder auch direkt bei Veranstaltungen vor Ort, wo wir uns unmittelbar den Belangen von Besucher*innen mit Behinderung widmen können.
Wie reagieren die Veranstalter auf Sie? Sind sie allgemein aufgeschlossen für diese Thematik oder gibt es noch eine große Hemmschwelle?
Auch trotz Corona hatten wir tatsächlich einige Interessenten, die diesen Nachholbedarf erkannt haben. Wir haben also aktuell gar keine Probleme, Auftraggeber*innen zu finden – was natürlich wunderbar ist.
Für 2022 hatten Sie sich vorgenommen, sich mit absehbarer Lockerung der Pandemie-Einschränkungen verstärkt für einen Neustart in der Kulturbranche mit mehr Barrierefreiheit als bisher einzusetzen.Â
Das passiert bisher nur bedingt. Mit den Lockerungen verbunden ist ja auch ein Hochfahren von Kulturangeboten. Deswegen wollen wir jetzt Veranstaltende motivieren, diesen Prozess direkt mit der Umsetzung von Barrierefreiheit zu verbinden und sich damit auseinanderzusetzen. Das Gute ist, dass viele Kulturbetriebe während der Pandemie auch die Zeit hatten, sich diesem Thema mehr zu widmen.
Welche Maßnahmen ergreifen Sie zum Erreichen Ihrer Ziele?
Um ein paar zu nennen: Barrierefreiheit geht ja nicht erst auf der Veranstaltung los. Sondern natürlich auch im Vorfeld. Wenn wir also von der Zeit vor der Veranstaltung ausgehen, stellt sich grundsätzlich, wie schon gesagt, erstmal die Frage: Wie besorge ich mir eine Eintrittskarte? Wo hole ich mir Informationen über die Veranstaltung ein? Dabei sprechen wir von Social Media, Webseiten und Werbemaßnahmen. Und diese Kommunikationswege müssen für Menschen mit verschiedenen Behinderungen barrierefrei gestaltet sein. Das heißt: Wie erhalten beispielsweise Menschen mit Lern- und Leseschwäche Informationen? Wird in verständlicher Sprache kommuniziert? Wie können sehbehinderte und blinde Menschen Informationen abrufen? Alle Kommunikationswege im digitalen Raum müssen geprüft werden, inwieweit sie barrierefrei sind. So ist beispielsweise bei Instagram und Facebook unbedingt auf Alternativtexte zu Bildelementen zu achten. Auch haben wir universelle Piktogramme (Icons) entwickelt, die auf digitalen und analogen Werbeträgern platziert werden können, um Besucher*innen Auskunft über die Barrierefreiheit zu geben. Die Icons geben beispielsweise Aufschluss darüber, ob barrierefreie Toiletten vorhanden oder Assistenzhunde zugelassen sind.
Wenn wir von hier aus weiter gehen, ist die Frage: Wie komme ich denn überhaupt zu der Veranstaltung? Für Menschen ohne Behinderung gibt es überall schöne Anreisepläne, dabei wären diese für Menschen mit Behinderung viel wichtiger. Also stellt sich die Frage: Wie sind die umliegenden Haltestellen ausgestattet? Gibt es Aufzüge für mobilitätseingeschränkte Menschen, taktile Leitsysteme für blinde Menschen usw. Oder kann ich gegebenenfalls einen Shuttleservice anbieten? Vor diesem Hintergrund sollten Veranstaltende herausfinden, welche Möglichkeiten es gibt, und diese kommunizieren.

Die Agentur hat universelle Piktogramme für den Festivalbetrieb entwickelt. (Foto: WKU)
Wir sind dann diejenigen, die die jeweiligen Maßnahmen überprüfen können und dazu anregen, welche Informationen zur Barrierefreiheit zu kommunizieren sind. Nach dem Anreiseweg sind wir vor Ort angekommen. Hier stellt sich die Frage: Gibt es barrierefreie Parkplätze für Menschen, die mit dem eigenen PKW anreisen? Wie ist die Einlasssituation? Werden dort Rampenlösungen benötigt? Sind die Eingänge auch für Rollstuhlfahrende breit genug?
Auch das Personal muss geschult werden, wie es mit Besucher*innen mit Behinderung umgeht, weil dieser Umgang oft mit sehr viel Unsicherheit verbunden ist. Wenn ich beispielsweise eine blinde Person einfach am Arm nehme und irgendwo hin ziehe, kann das traumatische Auswirkungen für die Person haben. Also bitte erst fragen, ob und wie man helfen kann! All das muss man natürlich wissen, weswegen wir darüber aufklären. Auch prüfen wir, welche Maßnahmen direkt vor Ort zu treffen sind. Wie hoch ist der Tresen? Gibt es abgesenkte Tresen für Rollstuhlfahrende? Gibt es barrierefreie Toiletten? Welche Wegestrukturen erwarten mich auf der Veranstaltung? Es gibt also ein buntes Spektrum aus möglichen Maßnahmen, die erforderlich sind und die wir empfehlen können.
Was waren bisher Ihre erfolgreichsten Maßnahmen?
Ich würde sage: Jede Maßnahme, die in irgendeiner Weise von Veranstaltenden ergriffen wird, die dafür sorgt, dass sich Behinderte auf Veranstaltungen sicher und wohl fühlen, ist ein Erfolg. Inzwischen arbeiten wir mit großen Kooperationspartner*innen, die maßgeblich Einfluss auf die Veranstaltungsszene haben. Und wir haben volle Auftragsbücher, das ist natürlich toll. Ich bin quasi auch persönlich ein Profiteur des Erfolgs, weil ich bereits seit dem ersten Gründungsjahr der Agentur als erster festangestellter Mitarbeiter bei „Wir Kümmern Uns“ beschäftigt bin. Bei uns werden auch alle für ihre Mitarbeit vergütet. Es war uns von Anfang an wichtig, dass Menschen mit Behinderung, die uns ihre Expertise zur Verfügung stellen, dafür bezahlt werden und ihr Wissen nicht nur ehrenamtlich bereitstellen.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Es wäre schön, wenn wir perspektivisch in der Lage sind, in Deutschland gewisse Standards zu setzen und noch mehr Menschen mit Behinderung zu Wort kommen lassen. Beispielsweise durch Beschäftigungsmöglichkeiten in der Veranstaltungsbranche.
Bestenfalls haben wir hoffentlich irgendwann in jedem Bundesland Expert*innen in eigener Sache, die sich regional dafür einsetzen, Veranstaltungen barrierefreier zu machen. 
Und natürlich freuen wir uns auch darauf, dass es mit Kulturveranstaltungen jetzt wieder richtig los geht!
Ich wünsche Ihnen dabei von Herzen Glück!
(RP)

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