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Stell dir vor, du wachst auf und vor deinen Augen schwebt eine Zauberstab schwingende Fee, begleitet von weichem Licht, Feenstaub, Glöckchen und was eben so dazu gehört. Nach dem ersten Schrecken und etwas Ungläubigkeit, Augenreiben und dem Wunsch nach einer großen Menge Kaffee kommt sie auch schon zur Sache. Die klassischen drei Wünsche sind gerade aus (oder sie will am frühen Morgen nicht so viel arbeiten, man weiß es nicht), darum lässt sie dir genau eine Wahl: Du kannst weiterhin autistisch bleiben, oder aber du bist mit nur einem Wink ihres Zauberstabs neurotypisch. „Normal“. Nichtbehindert. Unauffällig. In jeder Hinsicht durchschnittlich. Was würdest du tun?
Die Frage, ob man sich den eigenen Autismus fortwünscht, ist keine, die man einfach mit ja oder nein beantworten kann, sondern ein fiktives Szenario mit moralischer Tragweite. Autismus ist kein Muttermal, das man herausoperieren kann, keine Grippe, die man auskuriert. Autismus ist eine nach aktuellem Stand der Wissenschaft angeborene neurologische Gegebenheit, die sowohl die eigene Persönlichkeit formt (uns also zu der Person macht, die wir sind), als auch unsere gesamte Wahrnehmung beeinflusst: Die Art und Weise, wie wir all die mannigfaltigen Informationen, die in jeder Sekunde auf uns einströmen, verarbeiten und darauf reagieren.
Mehr als eine simple Frage
In Interviews wurde ich schon einige Male gefragt, ob ich in einem Matrix-ähnlichen Szenario eine Pille nehmen würde, die meinen Autismus „heilt“, und jedes Mal wurde ich sehr wütend. Nicht nur, weil sich die Fragenden damit sehr unreflektiert zeigten, sondern auch, weil sie damit ihre tatsächliche Sicht auf mich und andere Menschen mit Behinderung offenbarten. Die Fragenden sehen Autismus als etwas, was man lieber nicht haben möchte. Wie aber antwortet man am besten?
Dieses Szenario ähnelt der neurotypischen Frage, ob man, hätte man die Chance, sein Leben noch einmal zu leben, irgendwas anders machen würde. Nur dass es bei der Frage lediglich um eine eigene Entscheidung geht, nicht um defizitär wahrgenommene, angeborene neuronale Abweichungen.
Als in der Öffentlichkeit stehende Autist*in zu sagen, man würde lieber nicht autistisch sein, sendet starke Signale an alle, die das hören oder lesen. Man transportiert damit das Gefühl des Falschseins, die Meinung, defizitär zu sein, nicht so gut wie Neurotypische. So eine Aussage nährt das Tragödienmodell Behinderung, das eine der Ursachen bildet, warum wir im Alltag und im Beruf immer noch diskriminiert werden. Ich weigere mich also in der Regel, diese Frage zu beantworten, und erkläre es auch.
Eine komplette Veränderung der eigenen Persönlichkeit hin zu jemandem, den man nicht kennt und der in jedem Fall so ganz anders sein würde als man aktuell ist, ist so abstrakt und hypothetisch, dass man sie als eher dem Analytischen zugeneigte autistische Person niemals korrekt beantworten können wird. Man kann sich die Alternative zum Ich nicht vorstellen und wüsste nie, worauf man sich wirklich einlässt. Ich möchte viel lieber, dass sich Autist*innen mit ihrem eigenen Autismus akzeptieren können, dass sie selbstbewusst werden und lernen, sich in ihrem Leben zu behaupten. Ich möchte, dass sie ganz selbstverständlich glücklich sein dürfen.
Wünsche sind zutiefst menschlich
Ein öffentliches Statement ist jedoch etwas anderes als ein Wunsch, den man hegt. Wünsche tragen in der Regel die Hoffnung auf eine Verbesserung in sich. Ich wünsche mir zum Beispiel lockiges Haar und eine andere Statur, weil ich entgegen besseren Wissens glaube, es würde mein Leben schöner machen, sähe ich anders aus. Die Verbesserungen, um die es bei dieser Fragestellung aber geht, haben sehr viele Autist*innen tatsächlich bitter nötig.
Egal, ob wir selbstständig leben, etwas Unterstützung erhalten oder einen hohen Pflege- und Betreuungsbedarf haben, meist sind unsere Lebensumstände schwierig. Oft haben wir schwerwiegende Probleme im Beruf oder damit, keine Arbeit zu finden. Viele sind einsam, schaffen es nicht, dauerhafte Kontakte zu knüpfen oder zu halten. Eine große Zahl autistischer Menschen macht Mobbing- und Gewalterfahrungen. Diskriminierung und Ableismus erleben wir täglich. All das sind Lebensumstände, die wir nicht ohne weiteres ändern können und für deren Bewältigung gerade unauffälligere Autist*innen nur selten Hilfe erhalten. Sie auszuhalten lässt Menschen depressiv werden, Angst- oder Essstörungen entwickeln, suizidal werden. Es macht sie krank.
Der Wunsch, den Autismus verschwinden zu lassen, ist also völlig menschlich und nachvollziehbar. Man wünscht sich eine bessere Lebenssituation, weniger Barrieren, all das, worauf man aufgrund der Behinderung verzichten muss.
Eltern und Kinder
Noch komplexer wird es, wenn sich Eltern autistischer Kinder mit dieser Frage beschäftigen, denn sie treffen diese Entscheidung nicht nur für sich selbst. Natürlich lieben sie ihr Kind, wie es ist, und doch könnte es doch so viel leichter sein, wäre es nicht behindert. Ein Kind zu haben ist an und für sich schon eine Herausforderung. Eines mit Behinderung verlangt umso mehr Kraft und Geduld – in allen Lebensbereichen. Auch Eltern machen also einen sprichwörtlichen Spagat, wenn sie darüber nachdenken, ob sie den Autismus des Kindes verschwinden lassen würden. Und umso mehr Schwierigkeiten sie aktuell ausgesetzt sind, desto mehr tendieren sie vermutlich dazu, es sich zu wünschen.
In genau diesen vulnerablen Zeiten bilden sie eine Angriffsfläche für unseriöse Heilsversprechen, mit denen sich manche Therapeuten oder Anbieter eine goldene Nase verdienen. Egal ob ABA, AVT, MMS, GFCF oder etwas anderes angeboten wird, es geht darum, den Autismus des Kindes angeblich zu lindern oder gar verschwinden zu lassen. In der Regel geschieht aber nur eins: Eine massive Anpassungs- und Verschleierungsleistung zu Lasten der Gesundheit des Kindes. Das macht sich aber nicht so gut in der Broschüre. Man verschweigt es also besser. Möglicherweise sind die Eltern bereits verunsichert und zermürbt genug, um noch Kraft zu haben, das Angebot zu hinterfragen, und willigen dankbar in dieses Angebot ein.
Wünsche haben Folgen
Auch die von Autismus Speaks (mit-) finanzierte Forschung zur pränatalen Verhinderung von Autismus ist kritisch zu betrachten. Denn auch hierbei geht es nicht darum, die Lebensumstände einer Gruppe zu verbessern, sondern darum, diese Gruppe gar nicht erst entstehen zu lassen. Man entscheidet also von außen, dass gewisse Menschen nicht leben sollten, da dieses Leben als nicht lebenswert eingestuft wird. Ein Schicksal, das Menschen mit Trisomie 21 bereits ereilt hat. Nicht sie wünschen sich, nicht leben zu dürfen, sondern ihre Umwelt trifft die Entscheidung.
Mit dem Gedanken zu spielen, wir wären lieber nicht autistisch, ist normal und menschlich. Sich manchmal zu wünschen, das eigene Kind hätte keine Behinderung, ist nachvollziehbar. Doch statt dieses Leben als nicht lebenswert einstufen zu lassen, wie es mancher in der Forschung macht, statt uns zu wünschen, wir wären eine andere Person, wie es die Frage suggeriert – warum schaffen wir nicht eine Welt, in der alle Menschen zurechtkommen?
Marlies Hübner erhielt mit 27 Jahren die Diagnose Autismus. Die in Wien lebende Autorin betreibt unter www.robotinabox.de einen der meistgelesenen Blogs zum Thema Autismus im deutschsprachigen Raum.
Marlies Hübner hat außerdem das sehr lesenswerte Buch „VERSTÖRUNGSTHEORIEN - Die Memoiren einer Autistin, gefunden in der Badewanne“ geschrieben. Sie können es beim sozialen Buchshop BmitW (Bücher mit Wirkung) bestellen, der Vereine und gesellschaftliche Projekte unterstützt.
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Adesanya
7. Februar 2023 um 4:29
…traurig und wahr, Menschen mit Autismus, allgemein mit Einschränkungen, erleben täglich Diskriminierungen von Nichtbetroffenen ausgehend, denen gar nicht bewusst ist, dass Unversehrtheit nicht selbstverständlich ist…der Leidtragende aber ist der von Autismus Betroffene, der durch die Gesellschaft schmerzhaft erfährt, wie es ist, mit einer Einschränkung zu leben, Ableissmus nahezu täglich…bin selbst von Asperger-Syndrom betroffen und musste dadurch das selbst erfahren, dass nicht wir behindert sind “SONDERN DIE GESELLSCHAFT UNS BEHINDERT UND DAS NAHEZU IN JEDEM LEBENSBEREICH”, obwohl ich über eine gute Berufs- und Schulbildung verfüge wurde mir später nahezu jegliche Ausübung einer beruflichen Tätigkeit an einer Arbeitsstelle verweigert, leide dank den jahrzehntenlangen Mobbingerfahrungen und Diskriminierungen von Vorgesetzten ausgehend, die ich in meinem Leben erfahren “durfte” (ich meine natürlich musste) heute unter teils schweren wiederkehrenden Depressionen und massiven Angstzuständen, verursacht durch diese jahrzehntenlangen Traumatisierungen…heute habe ich das Vertrauen in die Menschen nahezu gänzlich verloren, – nur noch ganz Wenigen, die mir sehr nahe stehen, vertraue ich…was das aller Traurigste und zugleich Erschreckendste der Gesellschaft ist, ist dass Betroffene zudem noch in jeglicher Hinsicht abgewertet und als minderwertige Menschen betrachtet werden, deren Lebensrecht hinterfragt wird, solch eine Einstellung der Gesellschaft ist äusserst bedenklich, schockierend und schrecklich…wo ist da der Respekt vor der Menschenwürde geblieben..???