Bereits 2015 zeigte sich der Fachausschuss der Vereinen Nationen besorgt darüber, dass der Großteil der Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen bei uns segregierte Förderschulen besucht. Der Ausschuss empfahl dem Vertragsstaat, umgehend eine Strategie für ein qualitativ hochwertiges, inklusives Bildungssystem zu entwickeln, und das segregierte Schulwesen zurückzubauen.
Kinder mit Behinderungen in allgemeinen Schulen nicht willkommen
Aber auch 14 Jahre nach Ratifizierung der UN-BRK seien Kinder und Jugendliche mit Behinderungen in der allgemeinen Schule in der Regel nicht willkommen, so der Sozialverband. Das Land Hessen leiste sich dagegen ein teures Doppelsystem, in dem für Inklusion nur begrenzt Raum und Mittel zur Verfügung stehe. Den politischen Willen der Hessischen Landesregierung zum planmäßigen Aufbau „eines inklusiven Schulsystems auf allen Ebenen“ (Art. 24 UN-BRK) können wir nicht erkennen, sagt Dorothea Terpitz, die 1. Vorsitzende von Gemeinsam leben Hessen e.V.
Wie die meisten Bundesländer schränke auch Hessen die Umsetzung der Inklusion durch den Ressourcenvorbehalt im Schulgesetz ein. Und trotz mittlerweile deutlicher Rechtsprechung zur diskriminierenden Wirkung der Aussonderungen von Kindern nur aufgrund ihrer Behinderung nutze die Schulbehörde dieses Instrument, meist nur um die allgemeine Schule zu entlasten.
Eltern werden einseitig beraten
Das sogenannte Elternwahlrecht ist in Hessen nach dem Gesetz ein einseitiges Wahlrecht nur der Eltern und nur zur Förderschule. Es hat eine zeitliche Befristung (bis zum 15.12. des Vorjahres). Doch es werde in der Praxis seitens der Verantwortlichen in Schule regelmäßig über das ganze Schuljahr hinweg dazu genutzt, die Eltern einseitig zu beraten, sie bezüglich Inklusion so zu verunsichern, dass sie glauben, ihre Wahl sei alternativlos.
Der Rechtsanspruch auf gleichberechtigten Zugang zur allgemeinen Schule inklusive des Anspruchs auf individuelle Förderung und Nachteilsausgleich muss häufig mit anwaltlicher Hilfe durchgesetzt werden. Die Antwort der Bundesregierung zu den Schutzmechanismen in Deutschland ist zynisch und hat diskriminierende Aspekte:
„Das Recht auf den Besuch einer Regelschule für Kinder mit Behinderungen ist in den Schulgesetzen aller Länder verankert, hierfür treffen die Länder angemessene Vorkehrungen. Darüber hinaus müssen Rechte in Deutschland nicht mit Schutzmechanismen versehen werden. Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzte, steht ihr/ihm gemäß ihrem/seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG der Rechtsweg offen.“
Die betroffenen Eltern müssen erst einen Anwalt finden, der ihre Sache vertritt. Und dann müssen sie diesen überhaupt bezahlen können. Denn meist bleiben die Kosten solcher Verfahren bei den Eltern hängen und die gehen teils in die Tausende. Die Ausführungen der Bundesregierung sind für viele Eltern daher praktisch gar nicht umsetzbar.
Kein Geld für Barrierefreiheit
Gemeinsam leben Hessen kritisiert, dass die Barrierefreiheit der Schulgebäude nicht planmäßig umgesetzt wird. Für die Kommunen und Kreise hätten andere Projekte Vorrang vor der Umsetzung der UN-BRK. Begründet werde dies mit der notorisch klammen Kassenlage, Barrierefreiheit würde nicht als prioritäre Querschnittsaufgabe betrachtet, obwohl Art. 4 UN-BRK vorschreibt, die Umsetzung der Inklusion „unter Ausschöpfung der vorhandenen Mittel“ voranzutreiben.
Die universitäre Ausbildung der Lehrkräfte beschränke sich im Bereich Inklusion in Hessen trotz Verantwortlichkeit aller Lehrkräfte nach wie vor meist auf die Förderschullehrämter. Dies spiegele sich in der Schule wieder, wenn dort die Kinder mit Förderbedarf von den Regelschullehrkräften gedanklich abgegeben werden an die Beratungs- und Förderzentren, so Terpitz. Eine gute Kooperation mit inklusiven Konzepten könne nur stattfinden, wenn die Universitäten alle Lehramtsstudiengänge dementsprechend befähigen.
Der Verband „Gemeinsam leben Hessen“ fordert deshalb:
- ein klares Bekenntnis der Landesregierung zur Inklusion und zur Schaffung eines inklusiven Bildungssystems auf allen Ebenen;
- die Erstellung eines Gesamtkonzepts mit zeitlichem Rahmenplan und erreichbaren Zielen zur strukturellen Umwandlung in Hessen;
- die Klärung der Kostenfrage zwischen Bund und Land, den Willen zur Zusammenarbeit zwischen Land und Kommunen/Kreisen im Sinne einer sinnvollen, kostenüberschaubaren Gesamtraumplanung („inklusive
- Bildungsregionen“);
- Investition in Lehrerbildung und in bewusstseinsbildenden Maßnahmen für Lehrer aller Fachrichtungen ab Beginn des Studiums;
- Maßnahmen zur Entwicklung inklusiver Standards und die Verpflichtung zur Erstellung von inklusiven Konzepten an jeder allgemeinen Schule. Die Umsetzung der Inklusion ist nicht nur Aufgabe der Förderschullehrer und sie beruht nicht auf Freiwilligkeit.
Gemeinsam leben Hessen e.V. nimmt teil an der gemeinsamen Mahnwache der Eltern und ihrer Kinder mit Behinderungen vor dem Gebäude der Vereinten Nationen in Genf (während der Anhörung der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-BRK am 29.8./30.8.2023 von 10-16 Uhr).
Für weitere Informationen:
https://www.mittendrin-koeln.de/aktuell/detail/der-uno-ist-unser-foederalismus-egal
https://twitter.com/KirstenKirsten/status/1690607399558627328
https://www.instagram.com/p/Cv-GCu7Nen8/
https://www.instagram.com/p/Cv_x2UENTH0/
Zum Parallelbericht der zivilen Verbände zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) 2023:
https://www.deutscher-behindertenrat.de/ID292569
(RP/PM)

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